Ankunft in Moorbrück - Burg Birkendamm

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1032 BF

In der Tat kam man nun gut und schnell voran. Der Nebel lichtete sich zusehends.
Just, als die ersten Strahlen des Praiosrunds den Nebel endgültig durchbrachen und den Blick auf einen frühlingsblauen Himmel freigaben, erschien ein grauweißes Gemäuer vor der Reisegruppe. Es wirkte eher wie ein Stein gewordenes Fort im Regenwald – rechteckig mit einem großen Tor. Hinter dem Tor, inmitten des Rechtecks, erhob sich ein quaderförmiger Wehrturm... offenbar der Bergfried. Auf dem steinernen Sockel des Turmes ragte vermodertes Holz wie ein Gerippe in die Luft - offenbar ein kläglicher Versuch, inmitten des Moores ein zierliches Fachwerkhaus für den Türmer zu errichten.
Der Blick von Vogt Gerling verriet, dass er die Burg noch nie zuvor gesehen hatte – und offenbar einen etwas wohnlicheren Ort erhoffte. Die Torwache verkündete mit einem Hornstoß die Ankunft der Gäste und langsam und knarrend öffnete sich das eicherne Tor.
Reto betrachtete die Burg ganz genau, eine ähnliche Wehranlage für sein Land hatte er sich auch vorgestellt. Sogar die äußere Mauer war aus Stein, dann konnte es ja gar nicht so schwierig sein, Steine als Baumaterial hierher in das Moor zu schaffen, sehr gut, dachte er. Gerne war Reto dem Wunsch der lieblichen Dame Madalein gefolgt, und Jolande hatte wirklich super ihre Arbeit verrichtet und den Karren aus dem Dreck gezogen. Eine Rahja-Geweihte in Begleitung des Ritters von Grimsau, was das wohl zu bedeuten hatte?
Er nahm sich vor, die Dame nach Ankunft in einer warmen Stube gleich nach ihren Beweggründen zu fragen, warum sie in ein Moor reise. Im Burghof angekommen und abgesetzt, wandte Reto sich zu seinen Begleitern.
Erborn, kümmere dich bitte um die Pferde, Bruder Perainfried und ich werde dem Vogt folgen, und ich versuche mal, einen gewärmten, gewürzten Wein für uns zu bekommen, falls die hier sowas kennen…“.
Dann hielt er nach Morwald Ausschau und ging auf ihn zu.
„Wahrlich, wahrlich“, murmelte Edelbrecht, der am Ende des langen Zuges geritten war, in sich hinein, „alles in einem keine gastliche Gegend!“
Wie suchend ließ er seinen Blick über das die Burg umliegende Areal schweifen. Es fröstelte ihn.
Unsagbares Leid war der Natur hier angetan worden – und es waren die Magier gewesen, die in alter Zeit dafür verantwortlich waren; nie würde er das vergessen. Der Jüngling ballte seine Rechte zur Faust und schüttelte sie drohend in Richtung Sumpf. Damit wäre es jetzt bald vorbei – eine neue Zeit würde über die Baronie Moorbrück hereinbrechen.
Mit der Hilfe seiner Gefährten und seiner bescheidenen Kraft würde es gelingen, diese Lande zu alter Blüte zurückzuführen und den Namen „Moorbrück“ in die Annalen der Geschichte zu verbannen. Dann würde die Baronie ihren alten ruhmreichen Namen zurückerhalten, dessen war er sicher. Doch bis dahin wäre noch eine Menge zu tun und es nahm alles hier auf Burg Birkendamm seinen Anfang.
Ob allerdings Vogt Morwald der richtige Mann für diese Unsumme an Aufgaben sein würde, bezweifelte Edelbrecht, und blickte mürrisch auf seine Begleiter, die für seinen Geschmack alle zu folgsam waren. Er jedenfalls würde sich von Morwald nicht einwickeln lassen und die Augen offen halten. Er traute dem Fettwanst nicht – immerhin ein Freund der Baronin Neralda von Nadoret, das sagte doch schon alles.
Edelbrecht schüttelte den Kopf, so als wolle er die finsteren Gedanken vertreiben und beeilte sich, zu den anderen aufzuschließen, die in der Zwischenzeit mit dem Vogt und ihrem Tross die Burg betreten hatten.
Langsam betraten die Ankömmlinge den Innenhof. Klein und ebenso ungastlich wie das Äußere wirkte er. Es war offensichtlich, dass der alte Baron Darian Grantel von Grantelweiher die von ihm errichtete Burg zu Lebzeiten nie vollenden konnte. An manchen Stellen kündeten vermoderte Holzpfosten von begonnenen, doch nie vollendeten Gebäuden. An einer Stelle war die Wehrmauer sichtlich feucht und versank langsam in den Boden. Noch ehe man aber den Bergfried erreicht hatte, wurde Vogt Gerling von der Torwache angerufen.
„Ein einzelner Reiter, Herr!“ meldete der Mann.
„Kannst Du ein Wappen erkennen?“ fragte er Vogt, der offenbar möglichst rasch aus dem Nebel, der wie ein klammer Griff durch die Kleidung drang, hinaus kommen wollte.
„Nein, Herr!“ erwiderte die Wache. Von draußen hörte man jetzt gedämpften Hufschlag, als der Reiter offenbar vor dem Tor hielt und von der Wache nach seinem Begehr gefragt wurde.
Roban Grobhand von Koschtal“, rief eine unwillige Stimme. „Der Vogt erwartet mich, also mach das Tor auf! Ich will hier nicht überwintern!“
Der Wächter warf noch einen Blick zum Vogt, der eilig nickte. Damit war auch der erste Spross der Koschtaler eingetroffen, vom zweiten hatte Gerling bis heute nichts vernommen.
Als das Tor aufschwang, führte ein Mann Mitte zwanzig sein Pferd am Zügel herein und gab es in die Obhut eines herbeieilenden Stallknechtes. Stiefel und Hose waren mit Schlamm bespritzt, als habe er den Weg nach Birkendamm nicht auf der ohnehin miserablen Straße, sondern querfeldein zurückgelegt.
„Muss wohl vom Weg abgekommen sein“, meinte er mit einem Schulterzucken. „Ist ja auch die reinste Waschküche da draußen!“
„Dann könnt ihr froh sein, dass ihr nich’ versunken seit ... vom Wech abzukommen is’ keine gute Sache hier am Moor!“, gab die Kundige Alma ungefragt zu wissen und erntete dafür einen scharfen Blick Robans, den sie aber scheinbar nicht bemerkte. Stattdessen steckte sie sich etwas dunkles Holz zwischen die Zähne und fing versonnen an daran zu kauen.
Boromils Vertrauen in Morwald Gerling hatte einen ersten Dämpfer bekommen, als er gesehen hatte, welchen Gesichtsausdruck dieser beim Anblick der Burg annahm. Hatte er nicht gewusst, in welchem Zustand Burg Birkendamm sich befand? Es war doch bekannt, dass der letzte Baron von Moorbrück, Darian Grantel von Grantelweiher, in seinen Bemühungen gescheitert war, diesen Ort zu restaurieren.
Bevor Boromil jedoch länger darüber grübeln konnte, vermeldete die Torwache die Ankunft eines Reiters. Der Ritter vom Kargen Land hatte gerade sein Reittier einem Stallburschen gegeben, als der Neuankömmling sich vorstellte.
Boromil beschloss, den Neuen zu begrüßen. Schließlich war er ebenfalls einer der sechs! Er schritt auf ihn zu und machte einen fröhlichen Gesichtsausdruck, während er ihm die Hand schüttelte.
„Den Zwölfen zum Gruße! Ich bin Boromil vom Kargen Land. Freut mich, dass Ihr es auch alleine hierhin geschafft habt!“
Edelbrecht, ebenfalls begierig darauf, den zu spät Gekommenen ins Visier zu nehmen, stieg von seinem Pferd herab und schloss sich Boromil an.
„Gestattet, dass auch ich mich vorstelle: Edelbrecht von Borking heißt man mich, werter Mitstreiter. Ich bin erfreut, dass auch Ihr allein angereist zu sein scheint, oder ist Eure Bedeckung noch im Sumpf zurückgeblieben? Die Weisungen des Vogts sind hier nicht eindeutig gewesen, so dass etliche unser Gefährten ihre halbe Verwandt- und Bekanntschaft mitgebracht zu haben scheinen. Aber verzeiht, ich rede und rede und nehme Euch vollkommen die Gelegenheit, Euch selbst einzuführen. Mit wem haben wir also die Ehre?“
„ Ähm ... tja, willkommen auch Euch, Wohlgeboren Grobhand von Koschtal. Ich denke, wir sind alle nicht abgeneigt nach dieser feuchten Anreise ein wenig warmen Würzwein zu uns zu nehmen und unsere Glieder im Inneren des Bergfriedes zu wärmen. Die Bediensteten werden sich derweil um unsere Rösser und Kutschen kümmern.“
Vogt Morwald rieb sich die Hände bei dem Gedanken an ein wohltuendes Kaminfeuer.
"Gonzalo, schirre Er die Pferde aus und stelle sie in diesem Unterstand sicher. Ich kann mich täuschen, aber es riecht bereits nach Regen."
Rainfried war bereits abgestiegen und half erst Madalein, und dann seiner zweiten Begleitung, einer älteren Frau mit bereits durchwegs grauen Haaren, deren Gesichtszüge die Verwandtschaft zu ihm nicht verleugnen konnte, von deren Rössern. Mit einem leicht überheblichen Tonfall beschwerte Rainfrieds Verwandte sich sogleich.
"Ich hoffe, dass sich etwas Brennholz in der Kammer findet, sonst frieren wir noch bis auf die Knochen. Vogt Gerling, seid so gut und reicht einer gebrechlichen Frau den Arm und führt mich ins Innere. Dieses Wetter ist nicht gut für meine Gelenke!"
Auffordernd, mit einer Agilität, die ihre Worte Lügen strafte, reckte sie dem in der Breite etwas überstattlichen Mann den Arm entgegen und sah ihn herausfordernd an.
Der Vogt, der schon halb Richtung Bergfried vorausgeeilt war, sah die Alte verblüfft an ... wer war das, bei Growins Bart? Die Mutter des Grimsauers?
Er mühte sich zu einem gequälten Lächeln und reichte ihr seinen Arm. Gemeinsam watschelten sie die steile Stiege empor, die zum Eingang des Turms führte.
Roban hatte die Begrüßung durch den Ritter vom Kargen Land und Edelbrecht von Borking mit einem wohlwollenden Nicken, aber ansonsten wortlos erwidert. Immerhin, der Bursche hatte einen kräftigen Händedruck, und auch die anderen machten nicht gerade den Eindruck, als sei ihnen körperliche Arbeit völlig fremd. Besser als eine Bande gepuderter Hofschranzen, dachte er bei sich, während er seine Pfeife aus dem Wams fingerte und mit den ihm eigenen umständlichen Bewegungen zu stopfen begann.
Die Burg machte nicht viel her, aber das galt für das Umland gleich doppelt, aber das hatte er sich beinahe schon gedacht. Die Baronie war arm, da konnte man kein garetisches Lustschlösschen erwarten. Immerhin, offenbar glänzte der Goldmund offenbar mit Abwesenheit, das war ein erster Lichtblick an diesem trüben Tag.
„Sag mal, wie kommst Du eigentlich durch den Sumpf bei diesem Nebel?“ fragte Boromil den Torfstecher, der sich wieder auf den Weg machen wollte.
„Kenn mich eben aus, Euer Wohlgeboren! Hab schon so manche edlen Leut in den Sumpf geführt!“
Bolzer Spatenschwingh quittierte die Frage mit einem Lächeln, das freundlich gemeint war, bei dessen Anblick es Boromil jedoch kalt den Rücken herunterfuhr. Der Torfstecher bemerkte Boromils Blick, führte dies aber nicht auf sein Gebiss, sondern seine Wort zurück und ergänzte schnell: „Und natürlich wieder hinaus!“
„Sichere Wege!“, erwiderte Boromil etwas verunsichert, und während Spatenschwingh in den Nebel hinauswanderte, drehte der Ritter sich um und schloss sich der Gruppe an, die sich ins innere der Burg wandte. Gerade redeten der Ritter von Grimsau, dessen ältere Begleitung und der Vogt miteinander.
"Verzeiht, Euer Hochgeboren."
Rainfried war offensichtlich leicht beschämt von Verhalten seiner Begleiterin.
"Brodlind von Grimsau, meine Großmutter."
Langsam folgte er an der Seite Madaleins den vorangehenden Personen. Der Vogt raunzte etwas Unverständliches, das in etwa so klang wie „So, so!“ Er hatte nun, mit der alten Dame an seinem Arm, endlich die oberste Stufe erreicht und machte sich schon auf eine ebenso abstoßende Burgstube gefasst, wie das Äußere es versprach.
So schäbig und heruntergekommen der Bergfried auch gewirkt haben mochte, im Inneren bot sich zur allgemeinen Überraschung ein durchaus anderes Bild. Wohlige Wärme strahlte vom bereits entzündeten Kamin ab und reflektierte an den schon etwas fadenscheinigen Wandteppichen, die Wappen zeigten, die Rainfried gänzlich unbekannt waren. Einige Möbel und Bilder waren offenbar mit groben, sackartigen Tüchern vor Staub und Dreck geschützt.
Devota, offenbar die Dienerin von Vogt Gerling, machte sich daran die sorgsam beschnitzten hohen Stühle an einem langen Tisch abzudecken und flink noch etwas zu bürsten, ehe die Gäste Platz nahmen. Der Geruch von warmem, gewürzten Wein durchzog die Halle.
Reto schaute sich im Hauptraum genau um, Plätze genug gab es ja an der großen Tafel. Doch wo würde die Dame Madalein Platz nehmen? Reto wartete einen Augenblick und schritt dann zügig zu dem Platz neben der Rahjageweihten. Es setzte ein freundliches Lächeln auf und sprach zu Madalein, „Verzeiht Eurer Gnaden, ist es euch Recht, wenn meine Begleiter und ich neben euch Platz nehmen?“
Dann hielt er drei Plätze frei und sorgte dafür, dass an jeden Platz ein warmer, gewürzter Wein gebracht wurde.
„Verzeiht noch einmal euer Gnaden, euch scheint kalt zu sein, darf ich euch meinen Umhang anbieten? Mir macht Kälte nicht so viel aus.“
Auch Vogt Gerling ließ seinen Blick schweifen, während er die Großmutter des Grimsauers an der Tafel platzierte. Seine Laune stieg etwas - mit der einen oder anderen Veränderung könnte man aus dieser Burg doch einen halbwegs wohnlichen Ort machen. Auch die Balkendecke, zu der sich eine gemauerte Treppe emporwandt, machte einen stabilen Eindruck. Dort oben waren vermutlich die Schlafgemächer des ehemaligen Barons. Dann ging er zum Stuhl an der Spitze der Tafel – an der Spitze der Lehne prangte das Wappen der Grantel von Grantelweiher.
Nachdem alle ihre Plätze an der Tafel eingenommen und einen wohlig dampfenden Kelch vor sich stehen hatten, erhob er sich (was bei seiner geringen Körpergröße kaum auffiel) und dann seinen Pokal:
„Trinken wir darauf, dass wir gut hier angekommen sind!“
Edelbrecht, der sich trotz seiner offensichtlichen Abneigung bemüht hatte, einen Platz direkt neben dem Vogt zu ergattern - immerhin galt es das Ansehen des Hauses Borking zur Schau zu stellen - griff zum Pokal, prostete dem Vogt und den übrigen Anwesenden zu und nahm einen tiefen Schluck. Nun endlich versprach dieser 12. Phex 1032 BF doch noch ein erfreulicher Tag zu werden.
Mit etwas mehr Zuversicht als zu Beginn seiner Reise richtete der Jüngling sich zu seinen annähernd zwei Schritt Körpergröße auf, blickte allen Rittern tief ins Gesicht und hob zu sprechen an: „Hochgeboren, ich denke ich spreche im Namen aller hier Versammelten, wenn ich Euch sage, habt Dank für Eure freundliche Aufnahme in diesem Gemäuer, wenngleich es auch nicht all unsere Erwartungen erfüllen kann. Doch bitte beendet nun das Rätselraten und bringt vor PRAIOS' Angesicht, welche Pläne ihr verfolgt und wie ihr weiter vorzugehen gedenkt in der Neubesiedlung des Moorbrücker Sumpfes. Nicht zu Unrecht bin ich bereits auf dem Knüppeldamm darauf zu sprechen gekommen und ich scheue mich nicht, es ein weiteres Mal auszusprechen: Was unternehmen wir gegen das so genannte Ding aus dem Sumpf? Sollten wir es nicht erst zur Strecke bringen, ehe wir den Neuanfang wagen und die Vorstellungen unseres geliebten Fürsten umsetzen, anstatt uns kopflos an den Aufbau zu begeben? Und wie stellt Ihr Euch die Zukunft der Baronie vor? Hüllt Euch nicht länger in PHEXISCHES Schweigen, ich bitte Euch und lasst uns teilhaben an den Ergüssen Eures Geistes!“
Mit einem Schmunzeln ließ sich Borking in seinen Stuhl zurückfallen. Sollte er nun endlich sprechen, der Narr, und sollte er nun endlich einmal seine Kleingeistigkeit verraten, vor der Edelbrechts Vater seinen Sohn bereits gewarnt hatte – sollte es jetzt nicht offenbar werden, welch Geistes Kind Gerling war, so war das Unternehmen, welches schon jetzt auf Messers Schneide stand, bereits zum Scheitern verurteilt, noch ehe es richtig begonnen hatte. Erwartungsvoll blickte er auf den Vogt, dessen Backen sich sichtlich gerötet hatten aufgrund des herausfordernden Tonfalls des so viel Jüngeren…
„Wollen wir nicht mit der Eröffnung warten, bis wir vollzählig sind? Es fehlt doch noch einer der Eingeladenen.“
Boromil schaute abwartend zu den anderen.
"Wohl war, ich glaube, es kann noch seine Zeit warten, bis der Herr Vogt uns über sein Vorgehen zur Urbarmachung des Sumpfes aufklären mag. Auch mir erscheint es wichtiger, dass alle Betroffenen presenta sind."
Rainfried nahm den ihm entgegengehaltenen Weinkelch entgegen, Ritter Reto zum Dank entgegennickend, und setzte sich auf einen der freigehaltenen Plätze.
"Mehr würde mich interessieren, wie viele wir denn letztendlich sein werden, denen die Aufgabe übertragen werden wird. Die Herren von Tarnelfurt, vom Kargen Land, von Borking und Grobhand von Koschtal kenne ich nun bereits. Hocherfreut über die Bekanntschaft übrigens, meine Herren Ritter. Auch von mir ein Dank an die Zwölfe und Aves, dass unsere Wege bisher sicher zum Ziel geführt haben."
Madalein lächelte Reto von Tarnelfurt ob der ritterlichen Geste an.
"Ich habe bereits einen Mantel, Wohlgeboren, aber wenn Ihr darauf besteht, werde ich mich nicht dagegen verwehren. Das Wetter hier im Kosch ist doch etwas ...nun... frischer, als in Almada."
Den Umhang über den Mantel ziehend, setzte auch sie sich auf einen der freigehaltenen Plätze.
Reto erhob sich und wirkte leicht ungehalten.
„Verzeiht, Ritter von Borking, aber bei Praios, wie sprecht ihr mit eurem Lehnsherrn? Wenn ihr die Korrespondenz aufmerksam gelesen hättet, dann müsstet ihr wissen, dass wir dem Vogt Lehnstreue schuldig sind. Was auch immer ihr mit diesem Ding aus dem Sumpf meint, schlimmer als in Tobrien kann es wohl nicht werden und mit Peraines Hilfe werden ihm seinen Unterschlupf rauben.“
Reto räusperte sich.
„Aber auch ich möchte alle im Namen der Zwölf begrüßen und euch meine Begleiter vorstellen, Bruder Perainfried aus Ilsur, mit dessen Beistand wir das Moor zurückdrängen werden, und meinen Freund, Weggefährten und zukünftigen Wildhüter meines Gutes Erborn Donnerbacher aus dem Weidischen. Zum Wohl!“
Erneut schwang sich Edelbrecht empor, nun seinerseits die Zornesröte im Gesicht. Ihm fiel es sichtlich schwer, beherrscht zu sprechen.
„Bei allem nötigen Respekt, Ritter von Tarnelfurt, aber ich habe nicht die Absicht, mich von Euch in höfischen Umgangsformen belehren zu lassen! Ich spreche frei heraus, wie es die Situation erfordert, und wie es seit Anbeginn der Zeiten im Hause Borking üblich ist. Auch bin ich nicht nach Birkendamm gekommen, um auf Zauderer und Diplomaten zu warten. Die Dinge wollen angepackt werden, fürwahr, so lasst uns also endlich beginnen. Und bitte vergesst doch nicht – die Schwarzen Lande, so sehr uns ihre Existenz auch schmerzt, existieren noch nicht einmal halb so lang wie der von allen Göttern verlassene Sumpf! Dem Vogt steht es an, in seiner Funktion als Stellvertreter eines rechtmäßigen Barons mich zurechtzuweisen, sollte es ihm belieben, aber Euch, mit Verlaub, geziemte es zu schweigen, wenn ein von Borking spricht!“
„Meine Herren Ritter!“ fuhr jetzt auch Roban Grobhand von Koschtal auf, der die bisherigen Reden schweigend verfolgt hatte.
„Muss man Euch wirklich an Travias Gebote erinnern, nach denen nicht allein der Gastgeber, sondern auch die Gäste zu einem anständigen Verhalten verpflichtet sind? Auch wenn ich Euch, von Borking, durchaus beipflichten will, dass große Aufgaben nur mit Taten, nicht aber bloßen Worten und Plänen bewältigt werden und die Absens des Herrn Goldmund von Koschtal uns nicht aufhalten sollte“, er nickte kurz in Richtung des Ritters Edelbrecht, „komme ich nicht umhin, auch dem Herrn von Tarnelfurt den Rücken zu stärken! Vogt Gerling, von gemeiner Herkunft oder nicht, ist uns als Lehnsherr bestellt worden, und nach Praios´ Gesetz haben wir ihm den gebotenen Respekt zu entbieten! So Euch die Person des Vogtes zuwider ist, könnt Ihr ja eine entsprechende Eingabe beim Grafen Growin von Ferdok machen – oder meinethalben auch direkt beim Fürsten selbst!“
Auch die Stimme des Koschtalers klang mühsam beherrscht, aber die Knöchel an seinen geballten Fäusten, die er auf die Tischplatte stützte, traten weiß hervor.
„Ruhig Blut, ehrenwerte Ritter“, der Vogt hatte sich erhoben, breitete seine kurzen Arme zu beruhigender Geste aus und blickte beide Streithähne mit betonter Gelassenheit an – Reto von Tarnelfurt nickte er dabei kaum merklich anerkennend zu.
„Da mit dem Herrn Grimm Goldmund von Koschtal nur noch einer der geladenen Mitstreiter fehlt und wir nicht wissen, ob und wann er eintreffen wird, gebe ich unserem jungen Gefährten aus Borking durchaus recht ... wir sollten nicht allzu viel Zeit verlieren und beginnen das Eisen zu schmieden.“, mit einem Funkeln in den Augen und einem neckisch schiefen Grinsen blickte der Vogt Edelbrecht von Borking einen Moment eindringlich an.
„Bevor wir aber uns und unser Vorgehen vorstellen werden, möchte ich der versammelten Ritterschaft etwas zeigen.“
Gerling wies seine blond gelockte Dienerin an, ein rechteckiges Paket auf einen Sims unweit des Kamins zu stellen. Offenbar gehörte es zum Gepäck, das der Vogt in seiner Kutsche mitgeführt hatte. Es hatte etwa die Form und die Größe einer kleinen Tischplatte. Langsam zog sie das sorgsam darüber drapierte dunkelrote Samttuch hoch und gab so den Weg für die Blicke der Anwesenden frei ... manche offenkundig neugierig, manche betont gelassen. Als sie jedoch sahen, was sich unter dem Tuch verbarg, weiteten sich die Augen aller Betrachter.
Im Schein des flackernden Kamins offenbarte sich ein Gemälde – ein Werk von wundersamer Feinheit und Lebensnähe. Eine Landschaft, so kunstvoll gemalt, als würde man darin spazieren gehen, von derart unvergleichlicher Schönheit, dass man sich unwillkürlich wünschte dort verweilen zu dürfen. Jedes sorgsam gemalte Blatt schien sich im sanften Frühlingswind zu bewegen, jeder Halm sanft zu schaukeln. Man glaubte die Wellen zu sehen, die über das reife Korn zogen, den Duft der kunterbunten Blütenpracht zu riechen, das Plätschern des Baches zu hören.
Im Hintergrund erhob sich eine kleine Stadt, die ihren Wohlstand offen zur Schau stellte. Ein prächtiger Tempel mit großen, bunten Fensterscheiben thronte über den Dächern der dicht gedrängten Fachwerkhäuser – bis hoch in den blauen Himmel, über den einige weiße Wolken zogen. Die Tempelfenster zeigten Szenen zu Ehren der Götter – und wenn man sie näher betrachtete glaubte man zu sehen, wie sich die Sonne in ihnen spiegelte.
Im Vordergrund des Bildes tollten einige Kinder, spielten mit Reifen und Stöcken, ein kleines Mädchen pflückte einen Blumenstrauß aus Lulanien und Traviablümchen.
Mitten in die Betrachtung dieser Idylle brach die helle, leise Stimme des Vogtes. Während die Augen der Gäste weiter das Bild bewunderten, war seine Mine ungewöhnlich ernst.
„Das ...“, so begann er behutsam an zu erklären, „... war Farnhain.“
Als sie das hörten, lösten sich die Blicke der Anwesenden von dem Gemälde und wanderten mit einem Ausdruck des Erstaunens zum Vogt. Dieser neblige und ungastliche Ort soll tatsächlich einst derart schön gewesen sein? Morwald Gerling starrte ruhig, fast melancholisch, in seinen Kelch als er weitersprach.
„Dieses Bild zeigt die Stadt Farnhain zur Zeit Rohals des Weisen. Gemalt von einem elfischen Künstler, der wohl damals selbst nicht ahnte, dass er der letzte sein würde, der diese Schönheit festhalten sollte.“
Das runde Gesicht des Vogts wirkte traurig im orangen Schein des Kaminfeuers.
„Schon wenige Jahre danach zogen die Magierkriege über das Land. Zwischen den Schergen des schwarzen Meisters Zulipan von Punin und des weißen Bewahrers Narehal von Ferdok tobte eine erbitterte Schlacht, in der diese Lande bis zur Unkenntlichkeit verdorben wurden. Aus Farnhain, dem Herzen des Ferdoker Landes, wurde Moorbrück, der Schandfleck des Kosch. Aus glücklichen und zuversichtlichen Menschen wurden mürrische und abergläubische Gestalten, die sich vor Irrlichtern fürchten und den Irrglauben von Monstren schüren, die im Sumpf ihr Unwesen treiben sollen“, bei diesen Worten blieb der Blick von Vogt Gerling einen Moment bei Edelbrecht von Borking hängen.
„Bis heute hat noch niemand den rechten Weg gefunden, der dieses Land von dieser alten Last befreit. Zu viele ehemalige Barone hatten nicht die nötigen Mittel und Leute zu ihrer Verfügung, manche waren nur auf ihr eigenes Wohl bedacht, waren faul und feige, kleinmütig oder ohne den nötigen Durchhaltewillen“, nun wurde die Stimme des Vogts energisch und eindringlich, „doch bei allen guten Zwölfen ... es ist Zeit, dass dieses Vorhaben endlich in die richtigen Hände kommt. Es ist Zeit, dass wir uns beraten und neue Wege wagen. Der Fürst hat Euch erwählt, junge Sprösslinge, in denen das Blut des erloschenen Baronshauses von Farnhain fließt, weil er all seine Hoffnung in Euch setzt – vielleicht die letzte Hoffnung, die dieses geschundene Land noch hat ... weil er glaubt, dass Ihr neue und frische Pfade erdenken und beschreiten werdet ohne schnell aufzugeben.“
Inmitten seines Wortschwalles sprang der Vogt von seinem Sitz.
„Nun frage ich Euch, seid ihr Willens, Euch dieser Aufgabe zu stellen?“
„Bei TSA, das will ich meinen! Hochgeboren, wenn es Euch wirklich ernst mit Eurem Anliegen ist, so seid Euch – ungeachtet aller Differenzen – meines Beistandes gewiss! Eure Worte lassen aufrichtige Anteilnahme erkennen, obgleich sie nicht verbergen können, dass es allein an uns zu sein scheint, den Schrecken aus den Sümpfen zu vertreiben. Auch wenn ich dies für bedenklich halte und wir die Möglichkeit nicht zu früh außer Acht lassen sollten, von Seiner Hochwohlgeboren Graf Growin ein Heer als Unterstützung zu erbitten. Baut auf meinen Schwertarm und meinen Verstand, auch werde ich schnellstmöglichst alles, was in meiner Macht steht, aufbieten, dass uns aus Waldwacht Hilfe zuteil wird.“
Edelbrecht erhob seinen Pokal.
„Auf uns und das künftige Farnhain!“
"Ich bin nicht hier hergekommen um faul und feige, kleinmütig und ohne Durchhaltewillen ein Lehen herunterkommen zu lassen."
Rainfried erhob sich von seinem Stuhl, leise sprechend.
"Dafür hat meine Familia zu lange darauf warten müssen, sich rehabilitieren zu können. Ich habe dem Fürsten vom Eberstamm einen Eid geschworen, dass ich sein treuer Diener sein werde. Und ich habe einen Schwur geleistet."
Rainfried Stimme wurde lauter.
"An dem Tag, an dem meine mitgebrachten Reben Früchte tragen, die nicht sauer sind, an dem Tag, an dem diese Früchte zu Wein gekeltert wurden, der sich Wein nennen darf, an diesem Tag werde ich einen Tempel bauen, der Herrin Rahja zu Ehren!"
Sein Blick fixierte den Vogt.
"Und nichts, rein gar nichts auf dem Deregrund kann mich davon abhalten, meinen Eid und meinen Schwur einzulösen! Niemand soll behaupten können, ein Grimsauer würde sich nicht seiner Verantwortung stellen, und ängstlich zurückweichen! Nihil timeatis, fürchtet nichts!"
Seine Stimme war inzwischen wohl in der ganzen Halle hörbar, getrieben von jugendlicher Ungestümtheit.
"Auch von mir, im Namen Rahjas und ihrer Heiligen!", er erhob ebenfalls den Kelch "Auf uns und das künftige Farnhain!"
Reto erhob sich und der Zorn in seinem Gesicht ob der Rede des Ritters Borking verschwand.
„So will auch ich alle Differenzen bei Seite schieben und das uns einigende emporheben. Möge uns die Herrin Peraine dabei helfen, gemeinsam aus diesem Moor ein so schönes Land wie auf diesem rahjagefälligen Bild zu machen!“
Retos Blick suchte den Edelbrechts, und er wiederholte laut seinen Trinkspruch.
„AUF UNS und das künftige Farnhain!“
Boromil hatte die letzten Minuten nur stumm verfolgen können, was geschehen war. Morwald Gerling war tatsächlich ein geschickter Diplomat, denn er hatte mit seinem Bild und seiner Rede Boromils Innerstes gerührt. Die Erinnerung an die leuchtende Zeit unter Rohal dem Weisen, der ein Vorbild rechtschaffener Magier und daher hochverehrt bei denen vom Kargen Land war; das außergewöhnliche Bild, welches einen lebendigen Blick in die Vergangenheit ermöglichte und damit zeigte, welch ein Ort der Moorbrücker Sumpf eigentlich heute sein sollte; die Verpflichtung, die aus seiner Verwandtschaft mit dem Baronshaus von Farnhain erwuchs - all hatte Boromil tief ergriffen. Seine Augen begannen zu glänzen..
Als er nun hörte, wie ein Ritter nach dem anderen mit dem Herzen auf der Zunge sprach und das sagte, was auch er empfand, da konnte auch er nicht länger sitzen oder schweigen.
„Bei den Zwölfen, Ihr sprecht offen aus, was ich denke und fühle! Es muss uns doch gelingen,“ - hierbei schlug er mit der Faust auf den Tisch - „gemeinsam aus diesem Land wieder das zu machen, wozu es bestimmt ist: Brave Koscher sollen dort wohnen und die Zwölfe ehren! Es soll ein Zeichen sein, dass am Ende eben nicht der finstere Zauber eines verderbten Magiers gewinnt, sondern der gütige Wille und die Beharrlichkeit der Menschen guter Gesinnung triumphieren!“
Bei seinen letzten Worten war Boromil lauter geworden und hatte fast geschrien. Sein Gesicht war leicht rötlich angelaufen.
„Und ja, wir mögen verschieden sein, der eine besser mit dem Schwert, der andere mit der Feder oder den Weinstauden! Aber dies kann unsere Stärke sein, denn wo der einfache Weg eines einzelnen nichts ausrichtet, da mögen mehrere über verschlungene Pfade zum Ziel gelangen! Und wenn wir offen sprechen, so mögen wir in Streit geraten, aber wir sind besser gefeit gegen Intrigen und Getuschel - und wir sind doch ehrbar zueinander, weil wir den anderen so gut einschätzen, dass er die Wahrheit ertragen kann!“
Er hob mit einer schnellen Bewegung den Kelch, aus dem deswegen ein wenig Wein schwappte.
„Auf uns und unsere Unternehmung!“
„Recht so!“
Auch Roban stemmte sich von seinem Sitz empor, nachdem er die Begeisterung der anderen scheinbar teilnahmslos beobachtet hatte.
„Und vergesst nicht, welch große Taten auch die Altvorderen schon durch Mut, Fleiß und Beharrlichkeit vollbracht haben. Sie trotzten der Wildnis jenes Land ab, welches wir heute mit Stolz unsere koscher Heimat nennen dürfen! Und mögen wir auch wenige sein – oftmals sind es die wenigen, welche große Taten vollbringen können! Sagt man nicht, dass selbst der finstere Borbarad von nur sieben tapferen Männern und Frauen bezwungen wurde? Wenn für den Dämonenkaiser sieben genügten, dann – bei Rondra – sollten fünf“, er konnte seine Belustigung über das Fehlen des Goldmund von Koschtal nicht ganz verbergen, „wackere koscher Ritter wohl auch genug für diesen vermaledeiten Sumpf sein!“
Edelbrecht nickte andächtig, sich im Innern selbst einen Narren scheltend. Sein Temperament war mit der Zurechtweisung Tarnelfurts wieder einmal mit ihm durchgegangen; irgendwann würde es ihm zum Verhängnis werden. Er dachte an die düstere Prophezeiung der alten Wahrsagerin und schauderte. Trotz seines Schwurs würde sein Vertrauen in die Fähigkeiten des Vogts gering bleiben. Wenn er nicht auf seine Gefährten achtete, würde dieser ihnen gewiss alle zum Verhängnis werden.
„Alsdann, auf uns und das küftige Farnhain!“, sprach nun auch der Vogt mit erhobenem Kelch und sichtlich zufrieden nahm er einen tiefen Zug.
Nachdem jeder aus seinem Kelch getrunken hatte, die allgemeine Euphorie sich wieder ein wenig gelegt und alle wieder Platz genommen hatten, wandte Roban sich ein weiteres Mal an den Ritter von Borking.
„Verzeiht, wenn ich noch einmal Kritik an Euren Worten üben muss, Herr von Borking“, begann er, und diesmal war sein Ton versöhnlicher als beim letzten Male, „doch die Idee, vom Grafen Growin ein Heer zu erbitten und einen regelrechten Feldzug gegen dieses Ding im Sumpf zu beginnen, solltet Ihr fallen lassen. Das Gelände dort draußen“, er wies zu einem der schmalen Fenster, durch das man den Sumpf bestenfalls erahnen konnte, „ist gänzlich ungeeignet für einen größeren Heerhaufen, selbst wenn der Graf uns einen solchen zur Verfügung stellen wollte. Ihr habt selbst gesehen, dass schon die wenigen Wege für Reiter kaum gangbar sind, von den Widrigkeiten für den Tross, den dieses Heer bräuchte, ganz zu schweigen. Ich würde vorschlagen, zunächst einmal mit kleinen, unabhängigen und beweglichen – nennen wir sie Stoßtrupps – den Sumpf zu erkunden und zu klären, um was es sich bei diesem DING“, er betonte das Wort besonders, „überhaupt handelt, ehe wir uns daran machen, es zu vernichten. Ich für meinen Teil bin bereit, persönlich an einem solchen Unternehmen teilzuhaben.“
„Wohlan Ritter vom Koschtal, ich nehme Euch beim Wort – haltet Euch bereit; sobald die ersten wichtigsten Schritte zu dieser Unternehmung unternommen worden sind und ich meine Geschäfte eines fähigen Verwalters gelegt haben werde, rüsten wir uns zu einem gemeinsamen Feldzug wider die Schrecken des Sumpfes. Wer schließt sich uns an?“
Die Zeit sich dem, was auch immer im Sumpf lauerte, mit der Klinge zu stellen, wird noch früher oder später kommen, dachte sich Reto. Wenn wir ihm Stück für etwas vom Moor abringen, kommt es vielleicht gar zu uns und wir können den Kampfplatz bestimmen. Nein, Reto würde sich nun erst mal der Rahjageweihten widmen, vielleicht war sie bei dieser Queste hilfreicher als die Göttin Rondra, deren Namen die Voreiligen so gerne nannten. Er wandte sich der Geweihten neben sich zu.
„Verzeiht meine Neugier, euer Gnaden, aber was führt euch aus dem sonnigen Almada hierher? Wusstet ihr von der Aufgabe, die uns Ritter hier erwartet und wenn ja, habt ihr gar schon eine Idee, wie man vorgehen könnte?“
„Was mich hierher geführt hat, kann ich Euch gerne sagen, Ritter von Tarnelfurt. Ein Freund, den ich seit meiner Kindheit kenne. Rainfried hat mich persönlich gebeten, ihn auf der Aventuria zu begleiten, ein Stück Land urbar zu machen. Dass es sich dabei um einen formidablen Sumpf handelt, hat er mir allerdings verschwiegen. Ich gedenke allerdings immer noch, ihm dabei zu helfen.“
Mit einem neckischen Lächeln in Rainfrieds Richtung fügte sie noch hinzu: „Denn ab und an schadet es nicht, wenn man ihm helfend zur Hand geht. Vielleicht mag mich auch die Aussicht auf einen Platz für die Herrin Rahja in diesem sonst sehr zurückhaltendem Land letztendlich dazu bewogen haben. Und glaub mir, Rainfried, ich nehme dich beim Wort.“
Der so Angesprochene wandte sich ihr und dem Tarnelfurter zu.
„Verzeih, Teuerste. Ich war gerade etwas abgelenkt von den Planungen unserer Mitgäste hier, die bereits überlegen, wie sie dieses UNding besiegen wollen, dass angeblich sein Unwesen treibt.“
Roban ignorierte die Annäherungsversuche des Tarnelfurters – zum Schäkern würde man noch Zeit genug haben. Jetzt galt es, im eigentlichen Grund ihres Hierseins voranzukommen. Im Ritter von Borking hatte er einen ersten losen Verbündeten für seine Pläne. Immerhin bewies er mit der Auflage, sich zunächst um die Bestellung eines Verwalters kümmern zu wollen, mehr Weitsicht, als man es ihm nach seinen ersten Äußerungen in dieser Runde zugetraut hatte. Vermutlich war dieser baumlange Ritter ein durchaus fähiger Kerl, wenn er sein Temperament im Zaume hielt – ein Problem, dass Roban überaus vertraut war, neigte er doch selbst gelegentlich dazu, seine Zwiste mit den Fäusten statt dem Wort zu lösen.
Boromil war ein wenig skeptisch. Er war kein guter Krieger, seine Waffen lagen mehr auf geistigem Gebiet.
„Das Ding im Sumpf wird immer wieder erwähnt – vielleicht ist es jedoch nur ein Hirngespinst, entsprungen dem Aberglauben der Leute. Tatsächlich haben wir jedoch einen realen Feind, den man nicht so einfach erschlagen kann – den Sumpf selbst. Ich habe schon darüber nachgedacht und möchte Euch allen einige Vorschläge machen. Mir gefällt Reto von Tarnelfurts Idee, zunächst mit Hilfe von Geweihten den Boden wieder zu reinigen. Bruder Perainfried wird uns unzweifelhaft wertvolle Dienste dabei erweisen,“- er nickte dem Geweihten zu, der daraufhin freundliche lächelte - „denn mit Peraines Segen werden wieder göttergefällige Pflanzen hier wachsen. Es spricht aber nichts dagegen, auch andere Diener der Zwölfe um Hilfe zu bitten. Ein Ingerimm- oder Angroschpriester mag seinen Gott bitten, die Elemente zu trennen und vom Übel zu reinigen. Ganz gewiss werden wir im Kosch jemanden finden, der uns unterstützt! Ein Boronpriester mag die Untoten und gefangenen Seelen bannen, die sich noch im Sumpf befinden mögen. Selbst wenn uns niemand aus der Umgebung helfen würde, könnte ich Kontakt aufnehmen mit den Boroni, die in der Nähe des Gutes meiner Familie ihren Dienst verrichten!“
Als Boromil erst einmal losgeredet hatte, war er nicht so leicht zu bremsen.
„Auch sollten wir magische Hilfe nicht ausschlagen. Mein Haus hat traditionell gute Kontakte zu den Wächtern Rohals, eine meiner Schwestern selbst ist ihnen beigetreten. Haben sie nicht sogar einen Stützpunkt in der Nähe?“
„Das ist richtig“, pflichtete Morwald Gerling bei, „er heißt Eisenkobers Wacht.“
Nun sprudelte es aus Boromil nur so heraus.
„Na also! Wenn wir einen wirklichen Neuanfang machen wollen, sollte der erste Schritt gut gewählt sein. Ich meine, wir müssen ein deutliches Signal setzen. Sonst wird niemand hier siedeln wollen. Was meint Ihr?“
„Ich stimme euch in fast allem zu, was ihr sagtet. Und ich bitte Euch, überlasst die Zwerge mir! Ich habe einen alten Freund seit meiner Knappenzeit, der in der Bergfreiheit Waldwacht zu Hause ist und sich Etosch Gabelbart nennt. Ein umtriebiger Prospektor der Ambosszwerge, der nicht zögern wird, uns gemeinsam mit einigen seiner Gefährten zu unterstützen. Aber um eines bitte ich Euch“, und hier erhob Edelbrecht seine Stimme, die kaum merklich zu zittern begann. „Lasst die Magier aus dem Spiel! Magie hat Farnhain in das verwandelt, was wir vor uns liegen haben. Wir sollten dies Übel sowohl mithilfe der Götter und der Angroschim bekämpfen als auch mit dem Schwert – Magie ist absolut fehl am Platz! Wann hätte Magie jemals etwas Gutes gebracht, denkt doch nur an Borbarad!?
Nein, meine Herren, Magie ist der falsche Weg, dessen bin ich überzeugt! Und gestattet einen weiteren Einwand: Sollte es das so genannte Ding, nennt es wie Ihr wollt, nicht geben, so frage ich Euch, wer ist für das schreckliche Schicksal, den grausamen Tod des vormaligen Barons verantwortlich? Das war nimmermehr das Werk einer Räuberbande. Nichts Menschliches haftet der Kreatur an, die einen stattlichen Mann im besten Alter so zurichten kann. Dessen bin ich sicher, so wahr ich hier stehe!“
Boromil beschloss, nicht mit Edelbrecht von Borking eine Diskussion über das Wesen der Magie anzufangen, auch wenn es ihm auf der Zunge lag, ein paar schnippische Bermerkungen zu entgegnen. Der junge Mann war schließlich bereits mehrfach mit anderen aneinandergeraten – das brachte sie hier nicht weiter. Der Ritter vom Kargen Land beschloss jedoch für sich, auf jeden Fall die Wächter Rohals und auch die Magier seiner Familie um Unterstützung zu bitten.
Nun wandte sich Rainfried von Grimsau wieder der Menge zu.
„Es wird Tage, Wochen und wohl eher Monate dauern, bis dieses, Etwas, was auch immer es sein mag, gestellt werden kann. Wie habt ihr vor, werte Herren, diese Tage, Wochen, Monate zu überleben? Das Sumpfgras essen, das hier wächst? Das Brackwasser trinken, um nicht zu verdursten? Dann, Herren Ritter, muss ich Euch enttäuschen, dann müsst ihr vorerst alleine aufbrechen zur Ungeheuerjagd. Denn ich gedenke, mein Lehen erst einmal mit dem zu füllen, das ein schützenswertes Lehen aus ihm werden lässt. Bauern, Schmiede, Jäger, Kürschner, Holzfäller. Menschen, Zwerge und vielleicht sogar den einen oder anderen vom Elfenvolk, für die es sich lohnt, schützend die Hand zum Schwert zu führen, und dem Monstrum, so es denn tatsächlich existieren mag, den Gar auszumachen.“
Sein Blick wanderte zum Vogt.
„Was mich zum nächsten Punkt bringt, der von allgemeinem Interesse sein dürfte. Wie gedenkt ihr, geschätzter Vogt Morwald, die Lehen zu vergeben? Wer von uns Anwesenden kann welchen Fleck Sumpf sein Heim nennen?“
Boromil vom Kargen Land entgegnete Rainfried: „Ihr habt recht mit Euren Ausführen, werter von Grimsau. Ich stimme Euch in dem Punkt zu, dass das sogenannte Ding im Sumpf nicht unsere erste Aufgabe sein kann. Bevor Ihr jedoch Siedler anlocken könnt, so meine Überzeugung, müsst Ihr Ihnen sicheren Boden geben und Ihnen zeigen, dass Ihr alles tut, um sie zu beschützen. In diese Richtung zielten meine Vorschläge. Doch interessiert mich ebenfalls wie Euch, an welchen Orten Herr Gerling die Neusiedlung beginnen will.“
Er schaute mit erwartungsvollem Blick zum Vogt.
„Verzeiht, wenn ich das Wort noch einmal an mich reiße“, kam Roban Grobhand dem Vogt zuvor. „Ich sprach nicht davon, Hals über Kopf in den Sumpf zu stürzen, um dieses Was-auch-immer im ersten Anlauf zu erschlagen. Wohin derlei Strategie führt, hat man am Beispiel von Baron Darian allzu deutlich gesehen! Was mir vorschwebte, war eine Erkundung, damit wir uns und unsere Siedlungen – deren Errichtung ich weder vergessen habe noch aufschieben will – gegen die jetzt noch gesichtslose Bedrohung wirksam schützen können. Ich für meinen Teil will dort kein Bankett für irgendwelche Ungeheuer errichten, die im Sumpf hausen mögen. Was den Beistand der zwölfgöttlichen Kirchen betrifft“, er nickte beifällig in Richtung der Ritter von Borking und vom Kargen Land, „kann ich nur zustimmen, aus Überzeugung und auch aus leidvoller Erfahrung. Ein Geweihter, gleich welcher Kirche“, diesmal galt das Nicken der Rahja-Geweihten, „ist im besten Wortsinn ein Segen für die Unternehmung. Daher werde ich Botschaft an Answein Grobhand von Koschtal senden, einen Verwandten väterlicherseits, der dem Rondra-Tempel in Rhôndur vorsteht. Möglicherweise kann er uns, trotz des fürchterlichen Blutzolls, den die Diener der alveranischen Leuin in den letzten Jahren zu entrichten hatten, einen oder zwei Geweihte zur Seite stellen.
Was hingegen die Magie betrifft“, diesmal fixierte er Boromil vom Kargen Land und wiegte bedächtig den Kopf hin und her, „bin ich geteilter Ansicht. Ich habe beides gesehen, was Magie bewirken kann, Segen und Fluch. Es kann Leben retten und eine unglaubliche Hilfe bei fast jedem Vorhaben sein – aber es kann Menschen und Länder genauso leicht ins Verderben stürzen! Ich fürchte fast, in der Hinsicht keine klare Auffassung vertreten zu können. Aber ehe wir weiter planen können, und darin muss ich Euch recht geben, Herr Boromil, sollten wir erst einmal hören, WO wir uns überhaupt niederlassen sollen.“
„Nun, ein Freund seid meiner Knappenzeit in Weiden ist auch Erborn, ich war sehr froh, als er sich entschloss, mich hierher in meine alte Heimat zu begleiten, ich kann also mit Ritter von Grimsau mitfühlen“, entgegnete Reto der Geweihten. Dann erhob er seine Stimme.
„Schön, dass die Herren bereits schon mit dem Geschachere um das Land begonnen haben, aber erneut frage ich mich, ob hier alle des Lesens mächtig sind? Es sollte doch bekannt sein, das wir gemeinsam mit Vogt Gerling die Gegend erkunden und dann unsere Schollen zugewiesen bekommen. Glauben die Herren denn, der Vogt hätte eine Karte in der Tasche und unsere Güter seien schon mit Grenzsteinen abgesteckt? Statt der Frage nach zu gehen, welches Land man urbar soll, sollten wir uns hier lieber Gemeinsam um das WIE Gedanken machen. Ich für meinen Teil habe schon recht konkrete Pläne, was das wie anbelangt, aber vielleicht ist bei Ritter von Borking dann besser auf seinen Verwalter zu warten, wenn er sich nicht selbst um das wie kümmern wird?“.
Reto schaute interessiert zu Ritter von Borking und nahm einen Schluck Wein.
Dieser blieb die Antwort auch nicht schuldig, sondern brauste erneut auf: „Tarnelfurt, Eure Arroganz wird nur noch übertroffen von eurem gerüttelt Maß an Einfalt. Sofern Ihr Euch für den einzigen haltet, der hier mit HESINDES Weisheit gesegnet ist, so sprecht es doch klar aus. Wir alle haben eine höfische Erziehung genossen und sind des Lesens und des Schreibens kundig – unsinnig ist es daher hier ständig zu betonen, dass ihr das Schreiben des Vogts haargenau gelesen und memoriert habt!
Außerdem“, so fuhr der junge Borking fort „wollt Ihr es unserem hochgeschätzten Vogt tatsächlich zumuten, noch einmal hinaus in den Sumpf zu müssen? Bei allen Zwölfen, das kann doch nicht Euer Ernst sein. Ein Mann mit den hohen Qualitäten des Vogts wird doch an jeder Stelle gebraucht, und hier auf Birkendamm oder gar Moorbrück noch viel dringlicher als draußen im Sumpf.
Im Übrigen stelle ich es mir sehr interessant vor, wie wir unsere Siedlungen aufbauen, die unheilige Kreatur Kreatur sein lassen und seelenruhig darauf warten, dass sie zu uns kommt und unsere Werke zunichte macht, noch ehe sie richtig fruchten konnten, anstatt jetzt mit dem Schwert in der Hand und göttlichem Beistand, denn allein dieser fehlte dem verblichenen Baron, nach der Wurzel allen Übels zu suchen. Denkt einmal was für Übel aus dieser Region schon kamen: Visaristen, ein Räuberbaron und dämonische Umtriebe – ehe wir nicht geklärt haben, worin der Schrecken des Sumpfes besteht, wird sich kein Bauer und kein Handwerker, kein Bürger und kein Adliger an unserer Seite niederlassen wollen, das garantiere ich Euch!“
„Nun, ich weiß schon zwei Siedler an meiner Seite“, Reto deutete auf die beiden neben ihm sitzenden Erborn und Perainfried, „und weitere Siedler werden folgen, denn sie stehen unter meines Schwertes Schutz, so wie schon viele Perainepilger in den vergangenen Monaten in Tobrien.“
Reto wandte sich dem Vogt zu.
„Doch mir scheint, unser Lehnsherr möchte etwas dazu sagen…“
Nun sah sich der Vogt gezwungen, endlich sein Wort zu erheben.
„Eine größere Gefahr als jede Kreatur ist die Gefahr der Uneinigkeit und sinnloser Streit! Der Fürst hat in seiner Weisheit entschieden, dass jeder auf seine Weise versuchen darf, dem Sumpf zu Leibe zu rücken ... ob mit geweihtem Beistand, Hilfe der Angroschim, Pflug, Axt, Schwert oder Magie. Denn niemand hat bisher ein allgemein gültiges Rezept gefunden, und jeder kann die Wahrheit finden, wenn man ihn nur lässt. Jeder wird die Gelegenheit bekommen, seinen Weg zu gehen. Doch nur wenn wir alle den Weg des anderen akzeptieren, ihn annehmen oder gar unterstützen, werden wir auch vorankommen. Der Sumpf wird siegen, wenn wir uns gegenseitig Steine in den Weg werfen!“
Als Morwald Gerling sah, dass sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, fuhr er in gemäßigtem Tonfall fort: „Im übrigen, haben wir in der Tat bereits erste Pläne.“
Der Vogt wies Devota an, einen weiteren Plan herbeizubringen und auf den Sims zu stellen. Er erwies sich als getreuliche Karte der Baronie Moorbrück:

Moorbrueck 1032.jpg


Der Vogt erklärte: „Wir befinden uns etwas nordöstlich von Grantelweiher. Gemeinsam mit Kundigen des Sumpfes wurden nach langen Beratungen sechs Orte am Rand des Moorgebietes ausfindig gemacht, die für eine Siedlung tauglich sein sollten. Wir haben sie mit den Zahlen markiert. Wir umzingeln gewissermaßen den Sumpf und legen ihn von seinen Rändern her nach und nach trocken. Ich schlage vor, dass wir diese Standorte der Reihe nach selbst in Augenschein nehmen. Vor Ort können wir auch entscheiden, wer sich für den jeweiligen Standort entscheidet.“
Der Vogt wartete einen Moment auf Zustimmung oder Gegenvorschläge.
„Beeindruckend eurer Gnaden, ich finde ihr leistet bis heute hervorragend Arbeit, es würde mich glücklich stimmen, wenn wir auch weiterhin auf euch zählen können. Auch wenn die Karte nur einen groben Überblick gewährt, so scheinen mir die Siedlungsplätze III und noch mehr VI doch etwas fragwürdig. Verzeiht, aber sie liegen recht weit von Waldgebiet entfernt, und Holz wird unser wichtigstes Baumaterial sein. Oder ist mir auf der Karte etwas entgangen, was für diese Siedlungsplätze spricht?“
Der Vogt antwortete lächelnd.
„Nun, Nummer VI befindet sich zwischen Dunkelwald und Narehals Wald – da sollte es doch möglich sein, genug Holz zu schlagen, vor allem soll dort Granit gebrochen werden können – es taugt zwar nicht als Baumaterial, aber auch die Nähe zur Baronie Herbonia könnte von Vorteil sein, was den Bezug von Wolle, Stoffen und Kräutern angeht. Und was die Nummer III betrifft: Ihr müsst über den Rand der Karte hinaus denken. Dieser kleine Zipfel Wald nordöstlich setzt sich noch weit in die angrenzende Baronie Hammerschlag fort, und auch Bragahn ist nicht weit. Am Ufer des Flusses Warna im Süden findet sich zudem etwas Lehm, der zu Ziegeln gebrannt werden könnte, wovon vor allem die Standorte I, II und III profitieren könnten. Insgesamt dürfte jeder der sechs Standorte seinen Vorzug haben, vielleicht auch seine Tücken ... doch all das werden wir am besten vor Ort erkennen können. Ich denke, dass die kundigen Leute, neben Beratern am Grafenhof unter anderem unser Freund Bolzer Spatenschwingh, den ihr ja schon kennenlernen konntet, gute Arbeit bei der Standortsuche geleistet haben. Manchmal täuscht der erste Eindruck.“
Vielleicht wäre Standort III ja etwas für Edelbrecht von Borking, dachte Boromil. Er hat ja Freunde bei den Zwergen, da sollte ihm der Kontakt am leichtesten fallen.
„Veritas. Ihr habt Recht, Ritter von Tarnelfurt. Diese beiden Orte scheinen auf den ersten Vista schon sehr unpässlich zu liegen. Jedoch wohl von Nöten, soll der Sumpf komplett umschlossen werden.“
Rainfried erhob sich wieder von seinem Stuhl, ging zu der Karte auf dem Sims und ließ seinen Blick nachdenklich darüber schweifen, an einer Stelle im speziellen hängenbleibend.
„Aber sagt, geschätzter Vogt. Was verbirgt sich hinter diesem Ort Nebelhain gen Firun und Rahja von hier?“
Sein Finger zeigte auf den zuvor mit den Augen fixierten Blick.
„Wer lebt dort?“
Sein Blick wanderte zur großen Tafel zurück.
„Oder kennt einer der anderen anwesenden Damen und Herren diesen Ort genauer?“
Roban schüttelte den Kopf.
„Nie gehört – klingt aber sehr nach einer windigen Ecke! Zumindest ist es ein großer Fortschritt, eine Karte zu haben, denn damit lässt sich, sobald wir die ersten Aufgaben auf unseren Ländern erledigt haben, eine Suche besser koordinieren, als wenn man blindlings und, verzeiht den angesichts von Baron Darians Ende etwas unpassenden Ausdruck, kopflos durch den Sumpf irrt. Sofern die Karte verlässlich ist!“
Er zog die Brauen hoch, als zweifle er daran, dass die Angaben über den Sumpf selbst den Tatsachen entsprachen – sie waren ohnehin dürftig genug.
„Vordringlichstes Problem dürfte ohnehin der Transport der Baumaterialien werden. Ich denke mit leichtem Schauder an den Weg nach Burg Birkendamm – es gleicht einem Wunder, Herr von Grimsau, dass es Euch gelang, ein ganzes Fuhrwerk in einem Stück hier herauf zu bringen. Da wage ich zu bezweifeln, dass die Wege in den Sumpf von besserer Qualität sein werden, falls es dort überhaupt so etwas gibt!“
„Verzeiht Vogt, aber bei dem Gelände durch welches das geschlagene Holz transportiert werden muss, sind schon einige Meilen vielleicht zu viel. Ich weiß was, Kaltblüter leisten können, aber sie können keine Bäume über Meilen schleppen. Ich war eh davon ausgegangen, dass wir unsere Siedlungen am Rand und somit noch auf halbwegs festem Untergrund errichten werden, um dann dem Moor Monat um Monat, Jahr um Jahr Land abzutrotzen, zu bepflanzen und zu bebauen. Oder hattet ihr im Sinne, dass wir quasi Pfahldörfer errichten?“
Reto betrachte die Karte neben Ritter Rainfried genauer.
„Ist die Karte maßstabsgetreu und welchen Maßstab könnte man wohl anlegen für einen Spann Karte?“
Dann flüsterte Reto dem Ritter neben sich noch etwas zu, aber so leise, dass es kein anderer im Raum hörte. Der Finger des Grimsauers wanderte kurz über die Karte, um dann erneut auf dem Ort Nebelhain zu verweilen.
„Ich kenne mich nicht gut genug in der Kunst der Cartografia aus, um zu beurteilen wie exakt diese Aufsicht ist. Aber bei den Mittel, die unserem Vogt zur Verfügung stehen, würde ich zumindest eine sehr gute Übereinstimmung vermuten.“
Vogt Gerling entging das Getuschel des Tarnelfurters durchaus nicht.
„Wollt Ihr unsere Runde an Eurer Ergänzung teilhaben lassen, werter Ritter Reto? Vielleicht ist sie von Nutzen für unsere weitere Beratung.“
„Vogt, bei allem gebotenen Respekt, aber wenn die Herren etwas für sich besprechen wollen, so sollte keiner von uns sie davon abhalten“, knurrte Roban Grobhand drohend. Mochte der Vogt auch Lehnsherr sein, er war kein Praiostags-Lehrer, der das Getuschel seiner Zöglinge unterbinden musste.
„Möglicherweise war die Äußerung gar von privater Natur – die Herren Ritter werden schon selbst entscheiden können, welche Äußerungen für uns von Wert sind und welche nicht!“
Er musterte den Vogt eindringlich und verbarg dabei nicht, dass er nicht besonders viel von Leuten mit der Figur eines Angbarer Fleischbällchens hielt.
Vogt Gerling musterte Roban einen Moment mit seinen runden Augen, auf seiner Stirn bildete sich eine lange Falte, wendete sich dann jedoch an den Grimsauer.
„Es wäre gefährlich, sich blindlinks auf die Karte zu verlassen. Eine völlig genaue Karte des Sumpfes zu erstellen, ist in der Tat leider noch keinem Kartographen gelungen. Für den Gang durch das Moor haben wir die Ortskundigen – Bolzer Spatenschwingh und eure Führerin aus Grantelweiher.“
Die Zeit war inzwischen schon deutlich vorangeschritten, und die Praiosscheibe so tief gesunken, dass Devota bereits einige Kerzenleuchter aufgestellt und die Kerzen daran entzündet hatte, um etwas mehr Licht den Raum erhellen zu lassen. Von draußen hörte man das Prasseln von Tropfen, die auf die Holzdecken und die Laden der Fenster niederregneten. Das Wetter in Moorbrück zeigte sich von seiner gastlichsten Seite. Wenigstens der Nebel würde sich etwas aufgelöst haben.
Edelbrecht musste unwillkürlich grinsen, als er die Worte Grobhands vernahm. Sollte es in der Tat noch jemanden geben, den Gerling innerhalb kürzester Zeit mit seinem Verhalten düpiert hatte, so sollte es nicht schwer werden, den „Lehnsherrn“ in einem fort in Frage zu stellen. Eine erstaunliche Leistung stellte diese Karte jedoch auf alle Fälle dar. Noch einmal musterte Edelbrecht alle seine Gefährten.
Mit Roban würde ein Auskommen – trotz dessen zwielichtiger Familiengeschichte – wohl am ehesten möglich sein. Auch Ritter Boromil schien ein aufrechter Streiter zu sein, wäre da nur nicht seine Affinität zur Magie gewesen. Nicht schlau wollte er hingegen aus dem Grimsauer werden und über seine Haltung gegenüber dem von Tarnelfurt konnte es wohl keine Zweifel geben.
„Wie dem auch sei, meine Herren“, ergriff er das Wort, „angesichts der fortgeschrittenen Tageszeit wäre es von Bedeutung zu erfahren, ob seine Hochgeboren uns noch etwas mitzuteilen gedenkt. Sollte dem nicht so sein, stünde es uns allen gut zu Gesicht, noch etwas zu speisen und zeitig das Nachtlager aufzusuchen, damit wir morgen mit dem ersten Hahnenschrei aufbrechen und die in Frage kommenden Gebiete inspizieren können, wobei ich meine Präferenz gegenüber dem Standort VI nicht verschweigen möchte, denn auch ich halte von Geheimniskrämerei und Kabalen in unserer derzeitigen Situation überhaupt nichts.“
Herausfordernd blickte er bei seinen letzten Worten Reto und Rainfried an. Boromil hatte die Karte aufmerksam studiert und war völlig in Gedanken gewesen. Plötzlich unterbrach er die anderen.
Narehals Wald - was ist das für ein Gehölz? Ist der Wald eher unheimlich oder durchquerbar? Immerhin ist er nach Rohals Schüler benannt. Und wie verhält es sich mit dem Birkenhain?“
Er hatte ein Auge auf Standort V geworfen. Er lag zwar im Vergleich zu den anderen mitten im Sumpf und hatte keinen der Vorteile, die Morwald Gerling soeben genannt hatte, aber Eisenkobers Wacht war nicht weit – sofern man einen Weg direkt durch den Wald nehmen konnte. Das mochte entscheidend sein, wenn man Hilfe bräuchte. Außerdem war er im Gegensatz zu Edelbrecht, der Magie rundaus ablehnte, und Roban, der sie etwas zwiespältig betrachtete, magischem Beistand sehr aufgeschlossen. Seine Familie hatte schon immer ungewöhnlich viele Magier in ihren Reihen, von denen viele Mitglieder der Wächter Rohals geworden waren. Er würde ihnen jedenfalls ein guter Nachbar sein.
Was ihn zum nächsten Punkt brachte, den er allerdings nicht offen aussprechen wollte. Eine wichtige Qualität der Standorte war nicht auf der Karte zu sehen. Auch die Aufteilung unter den Rittern war entscheidend. Es hatte sich am heutigen Tag bereits herauskristallisiert, dass Edelbrecht etwas hitzköpfig und Roban etwas stur war. Vielleicht sollte man ersteren nicht direkt neben Reto siedeln lassen, weil sonst Streit absehbar war? Um Rainfried machte er sich weniger Sorgen – der wirkte tüchtig und würde sich schon mit den anderen zurechtfinden. Ein Fragezeichen war Grimm Goldmund von Koschtal. Wie würde dieser sich verhalten? Sollte er nicht mehr eintreffen, bevor die Besichtigung der Siedlungsplätze begann – würde er sich damit abfinden, das zu nehmen, was übrig blieb?
Vogt Morwalds Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, seine Augenbrauen formten den traurigen Blick eines dicken Hundes.
„Um offen zu sein, werter Ritter vom Kargen Land: das hiesige Volk kennt wohl zu jedem Stein und jedem Busch eine eigene Geschichte. Das scheint nicht auszubleiben, wenn man über Generationen an einem Sumpf aus den Magierkriegen haust. Ein Grund mehr, dies endlich zu beenden.
So gibt es auch zu Narehals Wald die eine oder andere Mär von Einhörnern, Baumschraten und dergleichen. Wahrscheinlich auch vom Birkenhain, wenngleich ich dazu erstaunlicherweise noch keine kenne. ... doch undurchquerbar sind beide Gehölze sicher nicht. Überhaupt verweise ich das Geschwätz in die Welt des Aberglaubens. Umso offener stimme ich dem Vorschlag des Herren von Borking zu, dass wir den Abend mit einem Essen ausklingen und uns zur Ruhe begeben sollten – damit wir uns ab morgen früh ein eigenes Bild von der Lage machen können. Fernab von Vorurteilen und Aberglaube.“
Als Devota schon losgehen wollte, um das Abendmahl aufzutischen, gebot Gerling ihr, noch einen Moment einzuhalten.
„Einen abschließenden Punkt, der die versammelte Ritterschaft sicher noch interessieren wird, wollte ich zuvor zumindest noch angesprochen haben... die fürstliche Hilfe für den Aufbau. Seine Durchlaucht gewährt jedem für seine Neusiedlung folgende großzügige Hilfen.“
Gerling entrollte ein Pergament und begann zu lesen.

„Punkt Eins: Fürst Blasius vom Eberstamm finanziert die Errichtung eines Schreines zu Ehren einer der Zwölfe, auf dass die neue Siedlung unter gutem Schutze stehe. Die Wahl der Gottheit sei jedem Ritter freigestellt.
Punkt Zwei: Weiterhin gewährt der Fürst eine Wagenladung besten Angbarer Werkzeuges und jeweils drei Wagenladungen Stein aus Fürstenhorter Brüchen für die Fundamente. Darunter ein Grundstein mit dem fürstlichen Wappen als Zeichen, dass diese Siedlung unter fürstlichem Schirm stehe.
Punkt Drei: Jeder Ritter erhält für seine Siedlung 500 Dukaten, um diese für den Aufbau der Siedlung zu verwenden.
Punkt Vier: Der Fürst gewährt den Rittern das Recht, ihrer Siedlung und damit ihrem Lehen einen ehrbaren Namen zu geben und diesen Namen dann auch selbst im Zusammenklange mit dem Rittertitel zu tragen.
Punkt Fünf: Der Fürst gewährt den Rittern und allen Siedlern, so sie ehrbar sind und nicht unrechtmäßig aus Unfreiheit geflohen sein mögen, auf göttergefällige zwölf Götterläufe vom Momente der ersten Grundsteinlegung des Ortes an die Freiheit von der Kopfsteuer. Die Kaisersteuer übernimmt der Fürst während dieser Zeit in seiner Gnade und Großzügigkeit selbst.
Als Bindeglied zwischen Seiner Durchlaucht, dem Fürsten des Kosch, und der Ritterschaft diene, auf Empfehlung von Graf Growin Sohn des Gorbosch, der Vogt von Moorbrück, Morwald Gerling. Er verwalte und behüte die fürstlichen Gaben und vermittle mit den ehrbaren koscher Handelshäusern.
Verfasst und gesiegelt im Namen von Blasius vom Eberstamm, Fürst von Kosch. Devota Lichterlohe, fürstliche Hofsecretaria“

Boromil war mit den Ausführen Morwalds bezüglich der Standorte zufrieden. Aberglauben konnte jemanden aus seiner Familie nun gar nicht beeindrucken. Dann wäre tatsächlich Standort V ein Kandidat, den er besonders prüfen müsste. Selbst wenn der etwas ungestüme Edelbrecht von Borking an Position VI siedeln würde - das wäre kein Argument dagegen, im Gegenteil: Siedlungsplatz VI lag relativ weit von den anderen entfernt, der nächste Neusiedler würde er, Boromil, werden - womit eben der ungünstig erscheinende Fall ausgeschlossen würde, dass Reto von Tarnelfurt und Edelbrecht von Borking direkte Nachbarn würden.
Und was nun dessen Abneigung gegenüber Magie betraf: Es hatte aus Erfahrung keinen Zweck, mit verschlossenen Leuten zu diskutieren. Außerdem würden nun Taten zählen, und der junge Herr machte nun wirklich nicht den Eindruck, am liebsten den ganzen Tag faul herumzusitzen. Boromil begann, sich weitere Vorteile dieser Aufteilung vor Augen zu halten: Von Borking wirkte entschlossen und trotzig. Das könnte einem Ritter, der von den anderen entfernt siedelte, sogar zugute kommen - es würde viel Willenskraft bedürfen. Einen besseren Schwertkämpfer als ihn selbst in unmittelbarer Nachbarschaft zu haben, war ohnehin nicht verkehrt.
Direkt nachdem der Vogt geendet hatte, sprang Reto auf.
„Verzeiht, Vogt Gerling, aber ich würde zu zwei eurer fünf Punkten gerne noch ein paar Fragen stellen, ihr gestattet dies doch sicherlich?“
Reto fuhr jedoch, ohne auf eine Antwort zu warten, fort.
“Die unter Punkt zwei genannten Güter werden doch sicherlich vom Fürstlichen Fuhrpark angeliefert, denn wer verfügt schon über vier Fuhrwerke. Wie werden wir die unter Punkt drei genannten Dukaten ausgehändigt bekommen? Bar, Nordlandbank-Schuldscheine, Gutschriften für Fürstliche Lieferanten? Ich hoffe, ich habe mich kurz genug gefasst, nicht dass unser Essen kalt wird.“
Reto setzte sich wieder mit einer leichten, demütig wirkenden Verbeugung in Richtung Gerling.
„Nun, dann will auch ich mich so kurz wie möglich fassen und Eure berechtigen Fragen beantworten... Zum einen werden die Wagenladungen selbstverständlich in fürstlichem Auftrag geliefert – wir erwarten die ersten in etwa einer Woche. Die Dukaten lagern derzeit in fürstlicher Obhut ... inwieweit es nötig sein wird, diese wertvolle Fracht in Teilen hierher zu transportieren, wird im Einzelfall zu klären sein. Ich vermute jedoch, dass man mit Waren oder Mannen deutlich mehr anfangen kann als mit Gold – hier im Sumpf. Daher haben verschiedene Handelshäuser – etwa die Neisbecks aus Ferdok und die Stippwitzens aus Angbar – bereits angeboten, unser Vorhaben zu unterstützen“, der Vogt grinste verschmitzt und beugte sich etwas nach vorne, als er etwas leiser hinzufügte, „das Händlervolk hat erstaunlich schnell vom fürstlichen Plan erfahren und reißt sich regelrecht darum, mit uns Geschäfte zu machen. Sie unterbieten sich gegenseitig – und das soll nicht unser Nachteil sein. Ich kenne diese Leute und werde mein möglichstes tun, um gute Preise zu erhandeln. Sie werden die Bezahlung zudem direkt beim Fürsten abholen, wenn es nicht ausdrücklich anders gewünscht wird. Das erscheint mir eine einfache und kluge Lösung zu sein. Unsere Leute werden wir für andere Dinge besser brauchen können als zum Bewachen von Schätzen“, führte der Vogt aus, blinzelte verschwörerisch und wies Devota nun endlich an das Abendmahl aufzutragen.
Während Reto seine Fragen stellte, versank Roban Grobhand bereits in tiefes Grübeln. Die Wahl des Standortes war ihm nahezu gleich – jeder der Orte würde seine Vorteile und Widrigkeiten haben, ein Stück Land mitten im Morast. Mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm der Name – nicht zu hochtrabend, nicht zu anmaßend, einfach und passend. Namen wie Rondrasfelden, Grobhandsheim oder Schlammenberg hatte er bereits als unpassend verworfen. Noch mehr Kopfschmerzen machte ihm aber die Finanzen. Das Rechnen hatte er zwar erlernt, aber niemals wirklich beherrscht, und er hasste die Zahlendreherei, mit der wohl mancher Pfeffersack einen anständigen Rittersmann hinters Licht führen konnte.
Beinahe neidisch warf er einen Seitenblick auf Boromil vom Kargen Land, der eher ein Mann des Geistes zu sein schien und garantiert auch mit Zahlen und Steuerlisten umgehen konnte. Er würde dringend noch einmal nach Hause schreiben und seinen Vater um einen ehrlichen und zuverlässigen Verwalter beknien müssen – die kommenden Wochen würde er wohl viel schreiben und reisen müssen.
Die blonde Dienerin riss Roban aus seinen Gedanken, als sie ihm ein Brett mit Brot, Schetzenecker Käse und Räucherwurst auftischte. Ihr etwas trauriger Blick wollte nicht zu den Köstlichkeiten passen, die sie darbot. Schließlich goss sie etwas Ferdoker aus einer großen Kanne in seinen Kelch. Diese Prozedur wiederholte sie nach und nach bei allen Anwesenden.
Der Ritter vom Kargen Land schaute nachdenklich der Dienerin hinterher. Was sie wohl hatte, dass sie so traurig schaute? Er kam jedoch nicht dazu, sie zu fragen, denn dann nutzte Morwald Gerling die Gelegenheit, um mit vollem Kelch erneut auf den Erfolg der gemeinsamen Unternehmung anzustoßen. Nun machten sich alle über die deftigen Köstlichkeiten her. Ein solides Mahl, wie es sich ein echter Koscher nur wünschen konnte. Eine Weile aßen alle schweigend und hingen ihren eigenen Gedanken nach.
Die Erläuterungen des Vogtes zur Hilfe des Fürsten hatten Boromil nicht allzu sehr in Erstaunen gebracht. Das hatte ihm Gerling schließlich schon persönlich unterbreitet, als er Valpos Horn, das Gut seiner Familie am Angbarer See, besucht hatte. Allerdings rief ihm das eine andere Frage ins Gedächtnis, die er seinen Mitstreitern nun beim Essen stellen wollte.
„Ich habe noch eine Frage und einen Vorschlag, den ich an die anwesenden Ritter richten möchte. Wisst Ihr schon, welcher Gottheit Ihr Euren Schrein weihen wollt? Bei Euch, Rainfried, wird es wohl Rahja sein, während Ihr, Reto, anbetracht Eurer Begleitung Peraine wählen werdet. Was haltet Ihr von dem Vorschlag, jeweils einen anderen der Zwölfgötter auszuwählen, damit möglichst viele von ihnen im Sumpf einen besonderen Ort der Verehrung bekommen?“
„Nun werter Boromil, ich erlaube mir mal euch mit eurem Vornamen anzusprechen, so wie ihr es tatet, ihr habt Recht ich hätte auch einen Perainetempel errichten lassen, wenn der Fürst nicht dafür aufgekommen wäre.“
Reto richtet den Blick zu Morwald.
“Richtet dafür dem Fürst meinen untertänlichsten Dank aus, werter Vogt.“
Morwald nickte stumm, während er einen großen Bissen Käse zu sich nahm. Reto wandte sich wieder Boromil zu.
„Doch ich denke, es sollte keine Verhandlungssache sein, welchem der Zwölfe man ein Obdach errichtet. Dies muss jeder für sich selbst und nach seinem Herzen entscheiden. Wir für unseren Teil würden es begrüßen, wenn man sich für einen Tsa- und Travia-Tempel entscheiden könnte. Ich habe nämlich bereits weiter reichende Pläne, welche die Errichtung eines Klosters betreffen, was natürlich mit drei Gründern einfacher vonstatten gehen könnte.“
Reto wandte sich Gerling zu.
„Es wurde doch in den letzten Jahren kein Kloster „der drei Schwestern“ oder zu Ehren Peraines in der näheren Umgebung gegründet, euer Gnaden? Nicht, dass ich hier falsch informiert bin. Außerdem eine weise Entscheidung, das Geld beim Fürsten zu belassen und sich von den Kaufleuten schon mal Angebote machen zu lassen. Ich hoffe, Pferdezüchter und Wagenmacher haben sich angeboten beziehungsweise hoffentlich auch schon unterboten.“
Mit einem phexischen Lächeln nahm Reto einen Schluck des kühlen Gerstensaftes.
„Die einzige Niederlassung des Dreischwesterordens befindet sich, soweit ich informiert bin, in Gôrmel, unweit von Ritter Boromils Heimat Valpurg. Dort hingegen ist der gesamte Ort dem Kloster Untertan und dient einzig dazu, es zu ernähren. Ich nehme an, dass ich Euch richtig verstehe, dass Ihr klein mit einem Schrein oder kleinen Tempel anfangen wollt und das Vorhaben gemeinsam mit der Siedlung wachsen lasst. Eine Klostergründung ist ein teures Wagnis und braucht eine gute Grundlage oder wohlwollende Gönner. Vor allem erfordert es Verzicht, denn was dem Kloster als Eigenland gegeben wird, kann schon nicht Eures und der Siedler sein. Ich bewundere jeden um seine Frömmigkeit, der dies tut – doch verstehe gleichwohl jeden, der zunächst an den Aufbau der eigenen Domäne denkt“, gab Gerling zur Antwort. Er fragte sich, ob alle Ritter bemerkt hatten, dass in der Urkunde des Fürsten ausdrücklich von einem Schrein die Rede war ... nicht von einem Tempel mit Geweihtenunterkunft oder gar einem Kloster mit mehreren, vielleicht gar einem Dutzend Geweihten. Wer gleich zu Beginn mehr als einen Schrein sein Eigen nennen wollte, würde die Mehrkosten selbst tragen müssen.
Edelbrecht verdrehte angesichts der Worte Tarnelfurts belustigt die Augen und ließ sich zwischen zwei Brotscheiben, die er sich rasch einverleibt hatte, vernehmen: „Wo des Handwerkers Wille Gerüste zimmert und der Maurer seine Kelle schwingt, um einen Neuanfang in diesem Sumpf zu wagen und die Grundsteine für eine neue Siedlung zu legen, da darf der Schutz INGERIMMS nicht fehlen und so, werter Boromil, seid versichert, dass ich mir mit der ersten Kolonne aus Waldwacht einen ANGROSCHgeweihten kommen lassen werde, obgleich mir, wie ich gerne an dieser Stelle eingestehe, an dem Schutz des Schutzgottes unserer Familie – FIRUN – ebenfalls äußerst gelegen wäre. In der Tat finde ich es – anders als Wohlgeboren von Tarnelfurt – durchaus einleuchtend, was ihr über den verstärkten Schutz der Götter sagtet. Neben FIRUN und INGERIMM sollten daher früher oder später auch PRAIOS und RONDRA Einzug in meinem neuen Lehen halten.“
Mit einem selbstzufriedenen Gähnen beendete der junge Borking seine Rede und streckte sich der Tischplatte entgegen, um eine weitere Brotscheibe zu erhaschen.
„Verzeiht, dass ich mich zu Wort melde“, Bruder Perainfried sah schon während der Klosterpläne des Tarnelfurters so aus, als würde er sich gerne zu Wort melden – nun konnte er seine Sorgen nicht mehr innehalten, „ich will Euren frommen Eifer wahrlich nicht bremsen, denn jede der unteilbaren Zwölfe hat ihren Tempel oder gar ihr Kloster verdient. Doch es hat sich in der Vergangenheit als ratsam erwiesen, ein Werk – in diesem Fall eine neue Siedlung – jeweils EINEM der Zwölfe anzuvertrauen. Die Heilige Vieska soll einmal gesagt haben: »Die zwölfgöttlichen Geschwister sind gütig und allweise, doch manchmal neiden sie einander und zanken wie Wengenholmer Waldbauernbrüder.« ... es gibt gute Gründe, warum in kleinen Orten oft kein Tempel oder höchstens ein einzelner Tempel steht – und jedes Götterhaus stets nur einem der Zwölfe geweiht wird. Zumal ich mich frage, ob der Tempelzehnt oder das Eigenland des Tempels einer neu gegründeten Siedlung mehr als einen Geweihten ernähren können wird.“
„Wenn dem so ist, Herr von Borking“, schmatzte Roban vernehmlich, als speise er nicht an einer herrschaftlichen Tafel sondern, im Stall bei den Pferdeknechten, „dann werde ich meinen Schrein der alveranischen Leuin weihen lassen. Auch wenn ich bei so manchem der Zwölfe noch Schulden offen habe – immerhin bin ich gesund und bei klarem Verstand heimgekehrt -, so will ich doch zuvorderst Rondra um jenen Schutz bitten, den sie mir an der Grenze zu den Schwarzen Landen so manches Mal gewährt hat. Und wenn wir uns auf die verschiedenen Tugenden der Götter besinnen, so soll es doch mit dem Namenlosen zugehen, wenn wir keinen Erfolg haben sollten!“
Er spülte den letzten Bissen mit dem Rest Bier hinab und schien Devota nach Nachschub winken zu wollen, als er den betrübten Blick der Bediensteten bemerkte. Mit einem unbehaglichen Räuspern stellte er den Krug so leise ab, als könne das kleinste Geräusch schon zu laut sein.
Boromil hatte den Ausführungen der anderen aufmerksam zugehört und manches Mal genickt. Damit wären es also voraussichtlich Peraine, Rahja, Ingerimm und Rondra. Bis jetzt erschien ihm dies als eine sehr gute Wahl, zumal drei Götter dabei waren, die bei den bodenständigen Koschern sehr geschätzt wurden. So blieben denn, sofern man wirklich sechs verschiedenen Göttern einen Schrein errichten wollte, zwei aus acht auszusuchen.
Der junge von Borking hatte angesprochen, was Boromil ebenfalls bereits bedacht hatte und was ihn überhaupt erst so lange hatte grübeln lassen. Natürlich wäre der Hausgott der Familie naheliegend - was jedoch, wenn die einfachen Leute lieber an eine freundlichere Gottheit als Firun - wie beim Ritter von Borking - ihr Gebet richten wollten?
Hesindes Name wurde in seiner Familie hochgehalten, doch war die Göttin der Magie nicht gerade beim normalen Volk im Kosch beliebt. Sollten zudem noch Zwerge zu Hilfe geholt oder gar als Siedler angeworben werden, so würde eine Gottheit mit einer Schlange als Tier mitunter Probleme bereiten.
Deswegen war auch Tsa als Göttin des Neuanfangs, was ja durchaus sympathisch war und bei einer Neusiedlung passen würde, zwiespältig zu sehen: Eine Eidechse galt ebenso als Verwandte der Drachen, der uralten Feinde der Angroschim.
Praios schied für ihn persönlich aus. Der Götterfürst war kein Freund der Magie. Vielleicht wäre der Gott der Gerechtigkeit und der Sonne jedoch der Favorit von Grimm Goldmund von Koschtal. Zu schade, dass dieser bisher nicht erschienen war, was hätte man nicht alles bereits bereden können!
Boron war - ähnlich wie Firun - vielleicht zu grimmig an einem Ort wie dem Sumpf.
Efferd als Gott des Wassers und des Regens wäre sicherlich den Bauern zu vermitteln. Zudem könnte sein Segen helfen, leichter Trinkwasser zu finden und die Moorgewässer in Seen umzuwandeln. Da im Kosch Hügelzwerge sogar mit Boten über den Angbarer See fuhren, würde man diese Angroschim, falls man sie als Siedler gewänne, nicht mit dieser Wahl befremden.
Phex, der Gott des Glücks und des Handels, würde gleich zwei Aspekte befriedigen. Glück konnte er, Boromil, nur allzu gut gebrauchen, und ehrbarer Handel wäre notwendig, um die Neusiedlung zu einem Ort zu machen, der von fahrenden Händlern aufgesucht würde.
Die gütige Mutter Travia schließlich, Göttin des Herdfeuers, erschien ihm besonders naheliegend. Jeder schätzte sie im Kosch; die Neusiedler würden sicherlich oft um die Gnade einer sicheren Heimstatt bitten. Aber vielleicht wäre genau das ein Grund für Grimm Goldmund von Koschtal, sie zu wählen. Es bliebe also abzuwarten, was er sagen würde!
Leider würde das Geld am Anfang wohl kaum reichen, um gleich mehrere Schreine oder gar einen ganzen Tempel zu errichten, da hatte Bruder Perainfried wohl völlig recht. Selbst die größten Städte Aventuriens hatten nicht für alle Zwölfgötter ein geweihtes Haus.
Rainfried aß in der Zwischenzeit schweigend das Brot, den Käse und die Wurst, die ihm dargereicht wurden, sein Blick über die Versammlung schweifend, nur beiläufig der Diskussion, welchen der Zwölfe man wohl wählen sollte, lauschend. Wohl wissend, dass sein Lehen in den guten Händen der schönen Göttin und ihrer Dienerin Madalein sein würde, und was die Finanzen betraf, konnte kaum jemand seiner Großmutter Brodlind den Yaquir abgraben. Sie hatte über Jahre das wenige Geld vortrefflich verwaltet. Wenn jemand einen guten Preis aushandeln konnte für das Notwendigste, dann sie.
Nachdenklich blieb sein Blick an der Bediensteten des Vogtes hängen. Was wohl der Grund für ihre Bedrückung war? Ein Blick zu Madalein und ihr Nicken zeigten ihm, dass auch sie es bemerkt hatte.
„Verzeiht, gute Frau“, sein Blick fixierte die Augen Devotas, „aber ihr wirkt schwermütig. Wäre es vermessen, zu fragen, was der Grund dafür ist?“
Devota zuckte kurz ob des Angesprochenwerdens zusammen, blickte kurz, als wäre sie bei einer Schandtat ertappt worden, und bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen, das jedoch keineswegs überzeugend wirkte.
„Es ist nichts, Wohlgeboren! Verzeiht!“, auf ihren blassen Wangen bildeten sich rosige Flecken während sie sich wenig überzeugend bemühte, fortan eine hellere Mine zu zeigen und sich etwas in den Hintergrund der Tafel zurückzog.
Nachdem er sich etwa ein Dutzend satt belegte Brotscheiben einverleibt hatte, streckte Edelbrecht sich noch einmal und stand auf.
„Nun denn, wenn es nichts von allgemeinen Interesse mehr zu besprechen gibt, so würde ich mich gern zurückziehen. Der Ritt von Borking bis hierhin war alles andere als komfortabel und immerhin werden auf uns morgen schon gewaltige Aufgaben warten, wenn ich mich nicht irre. Meine Herren, ich wünsche allerseits noch einen schönen Abend!“
Dann verbeugte er sich – vor allem ehrerbietig gegenüber Boromil und Roban, wohingegen seine Gunstbezeugungen gegenüber Vogt Gerling und den anderen deutlich knapper ausfiel – und deutete Devota an, ihm zu folgen.
Als sie die Saaltür hinter sich schloss, ergriff der Jüngling ein weiteres Mal das Wort.
„Wohlan, möge sie mir mein Quartier zeigen. Auf dem Weg schütte sie ihr Herz aus und erzähle, warum sie derart betrübte Mine zeigte, während die anderen Anwesenden auf eine so großartige Unternehmung anstießen. Ist Euch etwas Unschönes widerfahren, war einer der Herren grob zu Euch oder vermisst Ihr etwas? Zu mir könnt ihr, gänzlich ohne die wachsamen Augen und Ohren des Vogtes offen sprechen – ist es etwa er, der Euch die Tränen in die hübschen Augen getrieben hat?“
„Es ist alles meine Schuld...“, sprach sie und schilderte dem Borkinger den Grund ihrer Anwesenheit im von ihr offenbar ungeliebten Moorbrück.
Roban hatte den Abschied des Ritters von Borking mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert. Sicher, ihn und den Herrn Edelbrecht verbanden wohl einige Dinge, andererseits war er noch nicht schlüssig, ob er allzu engen Kontakt mit dem bärengleichen Recken wirklich wünschte. Allzu offen war zutage getreten, dass dieser gegenüber dem Vogt eine offene Aversion hegte. Derlei Zank war aber nicht gerade das, was Roban unter einem gemeinsamen Vorgehen verstand – und genau das würden sie, ebenso wie den Beistand der Götter, bitter nötig haben, wollte man dem Moorbrücker Sumpf mit Erfolg zu Leibe rücken.
„Sagt, Vogt“, meinte er schließlich, nachdem sich die Tür hinter von Borking und Devota geschlossen hatte, „ist Eurer Dienerin unwohl, oder plagt sie möglicherweise eine Sorge? Man könnte fast meinen, dass sie sich um einen von uns sorgt – oder gar um uns alle!“
Vogt Gerling schmunzelte.
„Die gute trauert wohl ihrem guten Leben am Fürstenhof nach. Bis vor wenigen Wochen war sie Hofschreiberin unseres geliebten Fürsten Blasius“, er nahm den fragenden Blick Robans wahr und wurde deutlicher, „vielleicht ist dem einen oder anderen das Datum auf der Urkunde aufgefallen, mit der Ihr in den Ritterstand von Moorbrück erhoben wurdet. Bei allzu vielen stand dort irgendwas mit 1029 nach Bosparans Fall... und das mitten im Jahr 1032. Die Gute hatte offenbar zuvor den einen oder anderen Weinkelch zuviel ausgeleert und die Urkunden kurzerhand falsch datiert.“
Gerling prustete los, sein Bierkelch schwappte etwas über.
„Bemerkt wurde es erst, als die Urkunden Euch schon übergeben worden waren. Freilich peinlich für eine Schreiberin ... der Herzog der Nordmarken hätte sie wahrscheinlich irgendwo auf den Zinnen seiner Burg aufspießen lassen oder in den Graben geworfen. Doch Seine Durchlaucht ist für seine Milde bekannt und hat sie lediglich aus ihrem Amt verwiesen und bestimmt, dass sie sich als Wiedergutmachung hier in Moorbrück nützlich machen solle. Nun steht sie in meinen Diensten und geht mir zur Hand.“
Am Rande gab Reto von Tarnelfurt derweil dem Perainegeweihten eine Antwort auf seine fast verklungene Frage.
„Nun werter Perainfried, ihr könnt euch sicher sein, dass genug der Neusiedler ihren Frondienst für euch und euren Tempel verrichten werden. Ich dachte, dass hätte ich auch euch gegenüber erwähnt oder war es doch nur seine Eminenz, dem ich dies versichert habe? Wenn niemand mehr noch etwas einbringen möchte was uns alle betrifft, dann würde auch ich mich freuen, meine Unterkunft zugewiesen zu bekommen. Habt Dank für das zünftige und reichliche Mahl, mein Lehnsherr, und ich wünsche allen einen geschützten, erholsamen und erholsamen Schlaf.“
Reto und seine Begleiter zogen sich dann zurück. Rainfried erhob sich erneut von seinem Platz.
„Lamentabel, dass sich die werten Ritter bereits so zeitig in Bishdariels Schwingen begeben. Eigentlich wäre mir noch nach etwas Musik, um den Tag ausklingen zu lassen.“
Er wandte sich dem Vogt zu.
„Wenn ihr gestattet, Hochgeboren? Gonzalo ist ein Virtuose auf der Vihuela. Es wäre doch schade, das gute Instrument bei der Nässe auf dem Fuhrwagen zu belassen.“
Der Vogt nickte Rainfried zu mit den Worten „Etwas Zerstreuung vor der Nachtruhe kann nicht schaden.“
Auf eine kurze Bestätigung des sich wieder setzenden Rainfrieds eilte Gonzalo nach draußen, bemerkte dabei den Ritter von Borking und Devota, und so diskret wie möglich ging er zum Wagen, holte die schlankhalsige Vihuela und eine Schellentrommel und beeilte sich, um bei dem stärker gewordenen Regen so schnell wie möglich zurück in den Saal zu kommen.
Er übergab die Schellentrommel an die Rahjageweihte und setzte sich nach Aufforderung des Vogtes auf einen Stuhl nahe des Kamins und begann zu spielen. Eine leise, melancholische Melodie erfüllte den Raum. Eine Melodie, die von Wehmut, von verlorener Heimat erzählte. Dem Gefühl, alleine in der Fremde zu sein.
Madalein erhob sich und begann mit geschlossenen Augen zur Musik zu tanzen und mit der Schellentrommel den Takt vorzugeben. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, in Perfektion auf die Musik eingestimmt, gleich einer Visualisierung der einzelnen Töne. Und das Gefühl wurde durch sie noch weiter verstärkt. Gonzalo spielte lauter, den Rhythmus schneller. Und die Verzweiflung, die aus dem Tanz und der Melodie herausklang, immer intensiver. Immer fordernder, immer durchdringender.
Als die Musik endete, klang der letzte Ton der Vihuela noch lange nach. Niemand wollte etwas sagen. Jeder hing seinen zutiefst eigenen, traurigen Gedanken nach. Der Grimsauer erhob sich.
„Ich wünsche den Anwesenden noch eine angenehme Nacht. Ich werde mich ebenfalls zurückziehen.“
Seine Stimme war zitternd. Mit einem letzten Blick zu der noch immer mit geschlossenen Augen dastehenden Madalein und danach zum Vogt drehte sich Rainfried um, und verließ den Saal.
So sehr sich Rainfried auch bemüht hatte, es zu verbergen, dem Vogt waren die Tränen in den Augen des Grimsauers nicht entgangen. Und dessen Blick, der zuvor Madalein zugedacht war, hatte von innigster Zuneigung gesprochen… und tiefstem Verlust.
Falls es in der Absicht der Rahja-Geweihten gelegen hatte, starke Gefühle bei Boromil zu erzeugen, so hatte sie vollen Erfolg gehabt. Allerdings war er nicht angenehm ergriffen oder berauscht vom Tanz der Schönen und der wahrlich beeindruckenden Musik, sondern fühlte sich wieder besonders daran erinnert, dass er allein war und keine Gefährtin an seiner Seite wusste, mit der er sich die trübsinnigen Gedanken vertreiben konnte. Sein älterer Bruder, der Strahlemann, hatte selbstverständlich keine Probleme dieser Art - Erbe des Hauses, verheiratet, mehrere Kinder...
Die traurige Weise bedrückte Boromil noch zusätzlich. So etwas wurde aus gutem Grund selten gespielt auf Valpos Horn, denn die Umgebung war bereits düster genug. Moorbrück war in dieser Hinsicht nicht gerade besser.
Allmählich begann sich der Ritter vom Kargen Land über sich selbst zu ärgern. Da brachte Rainfried von Grimsau eine Rahja-Geweihte aus Almada mit, und Boromil hatte nichts besseres zu tun, als die hervorragende Darbietung mit solchen Gedanken zu quittieren! Er sollte froh sein, solche Kunst präsentiert zu bekommen, noch dazu hier, wo die Menschen jede Art von Zerstreuung bitter nötig hatten!
Es musste am Alkohol liegen, von dem er noch nie viel vertragen hatte, dass er diesen doch recht vielversprechenden Tag beinahe mit so einer Stimmung beendet hätte. Aber natürlich, erst der Gewürzwein, dann das Bier, das konnte ja nicht gutgehen! Diese Misslaune hatte er sich selbst zuzuschreiben. Daher wäre es wohl an der Zeit, sich ebenfalls zurückzuziehen. Hieß es nicht, der Morgen sei klüger als der Abend?
Für gewöhnlich folgte er diesem Gebot nicht, da er ohne Probleme bis spät in die Nacht lesen konnte. Doch der nächste Tag würde seine Aufmerksamkeit verlangen. Nicht nur galt es sein Pferd sicher durch den Sumpf zu lenken, auch waren die sechs Siedlungsplätze genauestens zu besichtigen.
„Mit Verlaub, werte Anwesende, es ist schon spät, und morgen wollen wir alle in den Sumpf. Boron schenke Euch einen erholsamen Schlaf und angenehme Träume!“
Mit diesen Worten ging Boromil vom Kargen Land hinaus.

Als Devota ihre Erzählung mit tränenerstickter Stimme zu Ende und Edelbrecht in sein Quartier gebracht hatte, in dem bereits ein gemütliches Kaminfeuer prasselte, schüttelte der junge Borking den Kopf.
„Ich erinnere mich, auch meine Urkunde war auf das Jahr 1029 BF datiert, und wenn schon…“
Edelbrecht hielt kurz inne und überlegte. Schon immer hatte er ein Ohr für das „gewöhnliche Volk“ gehabt, anders als sein Vater oder etwa sein jüngerer Bruder, von Gerbald, dem künftigen Stammhalter des Hauses Borking, ganz zu schweigen. Ihn verwunderte es nicht, dass eine junge Frau in der Blüte ihrer Jahre stehend keine große Neigung verspürte, auf Burg Birkendamm an der Seite Vogt Gerlings aushalten zu müssen.
Er betrachtete die junge Frau aufmerksam und verspürte eine tiefe Neigung ihr behilflich zu sein.
„Na, na, ich bitte Euch, wer wird denn gleich weinen?“ versuchte er ein wenig hilflos, sie zu trösten.
„Nun trocknet schon eure Tränen, sie wollen so gar nicht zu euren bezaubernden blauen Augen passen. Schaut mich einmal an – schaut her, es wird sich schon alles richten lassen; ich verspreche es euch. Gleich morgen werde ich mich an den Vogt wenden. Ich habe Euch zwar auch keinen Fürstenhof zu bieten, soviel ist schon einmal gewiss – nichts desto weniger würde ich Eure Hilfe gern in Anspruch nehmen, wenn ihr es euch gefallen lasst, so dass ihr Birkendamm verlassen könnt. Eine fleißige Schreiberin könnte ich an meiner neuen Wirkungsstätte durchaus gut gebrauchen und wir können gegebenenfalls in den Schreiben die Daten wegfallen lassen.“
Devotas Mundwinkel, die sich ob der aufmunternden Worte des Adeligen ein wenig aufgerichtet hatten, zogen sich erneut nach unten und während ihre Lippen bebten, konnte sie nur mühsam neue Tränen zurückhalten.
„Halt, nein, bitte, es war doch nur ein Scherz, verzeiht mir“, warf Edelbrecht ein, als er sah, was er mit seinen unbedarften Worten angerichtet hatte und um Devota abzulenken, bat er sie, jetzt gleich noch einen Brief für ihn zu schreiben.
Geraume Zeit später hatte die Schreiberin die Gedanken des Ritters zu Papier gebracht und Edelbrecht hatte das Kuvert versiegelt, so dass der Brief am nächsten Morgen direkt nach Waldwacht abgehen konnte. Nun schlummerte die Dienerin, dicht an den jungen Borking geschmiegt, auf seinem Nachtlager. Edelbrecht lag auf dem Rücken und starrte an die Zimmerdecke, während das Feuer im Kamin allmählich runterbrannte. Gleich morgen würde er sich den Vogt zur Brust nehmen, Devota zu sich holen, Standort VI belegen und… und…
Endlich fielen auch ihm die Augen zu und er fiel in einen tiefen glücklichen Schlaf.