»Angbar, dich feiern wir!«

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Ausgabe Nummer 33 - 1025 BF

»Angbar, dich feiern wir!«

Wie man das 1600-jährige Bestehen der alten Reichstadt feierte

ANGBAR. Es war noch früh am Morgen; eben fiel der erste Strahl der Praiosscheibe auf das stille Wasser des Grauen Sees, da begrüßte ihn die Matutina vom Haus des Lichtes mit goldenem Klang. Sofort gab von der Kuppe des Dwulin die Sturmglocke in Rondras Halle Antwort, und gleich darauf in allen Teilen der Stadt das Läuten der geschwisterlichen Kirchen. Schließlich aber, alles überschallend, herrlich rein wie rotes Erz, ertönte Baldarosch, der Heilige Amboß aus dem basaltnen Saale Ingerimms. Und weithin über den See, ins Hügelland, ins Koschgebirge, hörte man’s mit einer großen Stimme rufen: Angbar, die Eherne, reichsfrei von jeher, steht heut’ seit sechzehnhundert Jahr’!

Erinnern wir uns: Erst spät hatte die sonst so tüchtige Bürgerschaft begonnen, Pläne für den bevorstehenden Festtag zu schmieden — und fast hätte die wackere Reichsstadt ihr Jubeljahr „überm Bierkrug verschlafen“, wie es ein garstiger Nörgler vernehmen ließ. Doch er kannte die Angbarer schlecht! Denn mit umso größerer Emsigkeit gingen sie nun ans Werk, um das Versäumte doppelt auszubügeln. Besonders schön und prächtig sollte es heuer werden, denn „das letzte Mal“, an ihrem 1500. Jahrestag, hatte die Stadt die schlimme Herrschaft jenes Usurpators Porquid, des Fürstenmörders, erdulden müssen — wahrlich düstere Zeiten in der sonst so strahlenden Geschichte der Ehernen.

Von Altvorderen (und einem Hut im Wind)

Den Auftakt bildete der große Festtagsumzug durch die Seesstadt. Die Straßen waren mit bunten Wimpeln, Fahnen und Blumengirlanden geschmückt, eine vielhundertköpfige Menge drängte sich im Schatten der altehrwürdigen Bürgershäuser.

Herrlich bunt und stattlich war das alles anzuschauen, die Angbarer in ihren Trachten, neugieriges Landvolk aus der näheren Umgebung, dazu reichlich Gäste aus aller Herren Länder — denn auch der Eisenmarkt stand kurz bevor, so daß die Stadt am See aus allen Nähten platzte. Stimmengewirr erfüllte die Luft, ein Rufen, Fragen, Grüßen und Lachen, dazwischen das Schnauben der Rösser, das Brüllen der Zugochsen, die noch so manchen Karren voll Bier und Korn in die Stadt zu bringen hatten. Händler mit Bauchläden voll süßen Backwerks gingen umher, Fleischer boten würzige Rauchwürste an, Gaukler tanzten zum Geklingel der Schellen und schlugen Rad, und jedermensch und jederzwerg war in geschäftiger Eile und große Erwartung.

Dann aber — endlich! wie die Kinder ungeduldig seufzten – ertönten die Posaunen vom Gratenfelser Tore, und unter dem Jubel der Städter nahm der Umzug seinen Anfang. An der Spitze schritten die Diener der Zwölfe mit den Standarten der Kirchen und den Reliquiaren. Den rotgewandeten Ingerimmiaten folgte ein Zug zwergischer Sackpfeifenspieler und zwei Lanzen der Angbarer Garde in blinkendem Harnisch.

Hinter ihnen in die Höhe aber ragten überlebensgroße, ehrwürdig-starre Gesichter. Es waren die Altvorderenbilder, wunderbar gefertigte Ikonen, die auf langen Stäben getragen wurden. Hochkönig Angbarosch war da zu sehen, von dem die Stadt den Namen trägt; verdiente Vögte, Patrizier und Hauptleute, Baumeister, rohalische Richter und kunstfertige Erfinder, all jene, die sich in Krieg und Frieden um die Bürgerschaft verdient gemacht hatten. Es gilt als höchste Ehre in Angbar, nach dem Tode in diese Galerie der Großen aufgenommen zu werden. Aber auch, als Bilderträger hier im Zug zu dienen, ist ein würdevolles Amt, das nur den Angehörigen alteingesessener Familien zukommt und schon oft zu Streit und Zwist geführt hat, wenn sich jemand zurückgesetzt fühlte.

Nach diesen Beispielen vergangener Größe kam der Ehrwürdige Rat der Zünfte mit allen Zeichen seiner Würde, schon von weitem erkennbar an den hohen Hüten und den blinkenden Ketten um den Hals. Ihm voran trugen drei Amtsdiener Wappen und Schlüssel der Reichsstadt, die Waage als Symbol des Markt- und Messerechts und schließlich der Blutgreve das Beil der Gerichtsbarkeit.

Herr Bosper zu Stippwitz ritt auf einem prächtigen Schimmel und sah sehr ernst und feierlich aus unter dem schwarzsamtenen Hut des Reichsvogts, den schon sein Vater Eberwulf trug. Wer aber genau hinsah, bemerkte ein stolzes Lächeln um seine Lippen — doch wen hätte nicht Stolz ergriffen beim Anblick der jubelnden Bürgerschaft inmitten dieser schönen, alten und prächtigen Stadt! Plötzlich jedoch (war’s Groll oder nur ein heftiger Gruß des Herren Efferd?) wehte ein Windstoß den pelzverbrämten Hut von des Vogtes Haupt — ein böses Omen!

Doch das Zeichen seines Amtes und der Würde fiel nicht in den Staub, sondern eine rasche Hand fing’s — praiosseidank! — noch im Fluge auf und reichte es seinem verdutzten Träger zurück: „Ich glaube, der ist Euer“, sagte Odoardo Markwardt, nachdem er einen Herzschlag lang gezögert hatte. Der Vogt maß den stolzen Ratsherrn mit einem tiefen Blick, nahm dann mit einem knappen Dank den Hut entgegen und grüßte damit winkend die Menge.

Hinter dem Rat nun zogen die Verteter der Handwerksgilden einher, alle in festlicher Tracht und mit den Zeichen ihrer Zunft, ihre Lieder singend und die Fahnen mit dem Bildnis ihrer Schutzpatrone in die Höhe haltend: die Töpfer mit dem Sankt Firunian, die Schneider im Zeichen der Hl. Ysinthe, und die Waffenschmiede unter dem Bilde der Hl. Ingrimiane, die als erster Mensch das Schmiedewerk nach Zwergenart erlernt hatte. Kaum enden wollte der Zug, der sich unter Paukenschlag und Pfeifenklang einmal durch die ganze Stadt wälzte, bis er schließlich auf dem Neumarkt am Haus der Zünfte zum Stehen kam. Der letzten Gruppe aber strömte das ganze schaulustige Volk hinterdrein, und aus vielen Mündern hörte man die wohlbekannte Strophe des Koscherliedes: „Angbar, dich feiern wir!“

Von Festtagsreden und Fürstenworten

Über all diesem munteren Marschieren, Singen und Staunen war die Mittagsstunde fast gekommen, und vielen Bürgern und Zugereisten knurrte bereits der Magen. So machten die Händler mit ihren Ständen und Bauchläden ein gutes Geschäft, die Leute standen in Grüppchen beisammen, begannen munter zu kauen und dabei zu plaudern. Doch noch war nicht die Stunde des Feierns gekommen, wie man an den würdevollen Mienen der Honoratioren sehen konnte, die sich um die von bunten Fahnen umwehte Tribüne drängten. Inzwischen war auch der Fürst mit seinem Gefolge eingetroffen und unter großem Jubel begrüßt worden, was so manchem fremden Gast ein wenig sonderbar erschien — denn immerhin sei Angbar Reichsstadt und der Fürst doch nur geduldet in den Mauern. „Wir sind eben im Kosch“, mag mancher Einheimische achselzuckend auf derartige Bemerkungen geantwortet haben, bevor sich aller Ohren dem Herold zuwandten, der soeben die Trommel rühren ließ.

Etliche Würdenträger und Amtspersonen ergriffen nun das Wort, zu viele, um alle Reden hier getreulich wiederzugeben. Aus dem Tempel der Flamme war der Erhabene Hilperton Asgareol höchstselbst erschienen, um Ingerimms liebster Stadt in den Menschenlanden seinen Segen zu spenden. Ein wenig geschwächt von einem Fieber, mußte er von einem Novizen gestützt werden, doch sprach er klar und kraftvoll. Herr Bosper zu Stippwitz redete lange und feierlich von den Höhen und Tiefen der Stadtgeschichte und unterstrich die Rolle Angbars als „Hammer und Amboß des Reiches“, wobei er auch auf die lange Tradition des bevorstehenden Eisenmarktes zu sprechen kann. Kürzer und reichlich mit Anekdoten gewürzt fiel die Rede des Hügellandvogtes Nirwulf Sohn des Negromon aus, der zum Abschluß das Leben in Angbar mit einem goldenen Dukaten verglich: „Der hat zwei Seiten, Kopf und Wappen, Angroschim und Menschen — aber es ist ein Metall und eine Münze.“

Besonders freuten sich die Bürger über den Auftritt des durchlauchten Fürsten, der wie üblich keine langen Worte machte, sondern auf gut Koscher das Wesentliche aussprach: Daß die Angbarer weiterhin so brav und tüchtig sein sollten wie bisher und auch heute zeigen dürften, daß sie zu feiern verstehen. Und damit das auch was Rechtes werde, so der Fürst, lasse er den Brunnen auf dem Marktplatz mit Bier füllen und obendrein zwei Ochsen am Spieß braten. Da war der Jubel groß, und man eilte sich, der Aufforderung rasch nachzukommen.

Das bunte Treiben

Denn nach den langen Reden waren die Leute nun wirklich hungrig geworden und zerstreuten sich. Die ganze Stadt hatte sich nämlich in einen einzigen großen Festplatz verwandelt, und überall gab es etwas anderes zu essen, zu trinken oder zu bestaunen. Auf dem „Derenrund“ war wohl das emsigste Treiben; die Wirte der „Gaststuben Aventuriens“ hatten ihre Feuer seit den Morgenstunden geschürt, und tausenderlei fremdländische Gerüche erfreuten oder verwirrten die Angbarer Nasen. Auf dem Marktplatz brutzelte das Fleisch am Spieß, am Fischmarkt garten stattliche Angbarsche auf der Holzkohlenglut, und überall tönten die Humpen und Krüge. Zuweilen ging’s auch ein wenig zu bunt zu — etwa als einem norbardischen Gaukler seine sieben dressierten Frettchen entwischten und sich über den Stand der alten Elwina Meckering hermachten, die kandierte Früchte und Honigbrot verkaufte. Es dauerte eine Weile, bis der tapsige Nordländer mit Hilfe einiger beherzter Bürger und der Garde die flinken Tierchen wieder in den Käfigen hatte.

Draußen vor dem Tore fanden währenddessen die „gemeynen Wettkämpf“ statt, wie man all jene Disziplinen nennt, die den Bürgerlichen zukommen — auch wenn sie heutzutage vielerorts mit den ritterlichen Disziplinen vermischt werden, was eine schlimme Unsitte ist.

Der Lärm des Stockfechtens, das Klappern der Stäbe, das Rufen der Kämpfer — und auch so manche Schmerzenslaute, wenn das Ulmenholz sie traf, hallten über die Wiese. Hier taten sich besonders zwei Schwestern aus Wengenholm hervor, die zu dem Feste angereist waren. So manch ein gestandenes Mannsbild aus dem Hügelland handelte sich blaue Flecken ein bei den Hieben der trotzigen Bergmaiden.

Ein wenig abseits auf einem Brachfeld erging man sich im Steinstoßen, das dem Andergaster Baumstammstoßen ähnelt, nur daß man eben einen mehr als kopfgroßen Flußstein von sich schleudert. Auch zu anderen Zeiten üben sich die Angbarer gerne in diesem Spiel, und meistens trägt dabei einer aus der Zunft der Waffen- oder Grobschmiede den Sieg davon. Diesmal aber gelang der weiteste Wurf einem Seefischer namens Hanusch Zindel, der dazu nur meinte: „Hab’ schon mal’nen Angbarsch rausgeholt, der war viel schwerer.“

Zur allgemeinen Heiterkeit trug ein junger Mann von nicht gerade ingrimmscher Statur bei, der sich als weitgereister Mechanicus ausgab und behauptete, es komme beim Wurf nicht so sehr auf die Kraft des Leibes, als vielmehr des Geistes an. Berechnung des Abstoßwinkels, der Flugbahn, sogar der Windrichtung maß er mehr Bedeutung zu als schierer Muskelmasse. Er konnte von Glück reden, daß er Rückenwind hatte, sonst wäre ihm der Stein wohl auf den Fuß gefallen.

Der schönste Wettkampf für die Angbarer aber ist das Armbrustschießen, in dem die Hügelzwerge wahre Meister sind; da aber die Bürgerwehr in steter Übung gehalten wird, verwundert es nicht, wenn auch ein Schustermeister oder eine Schneidersfrau es mit dieser Waffe zu einiger Kunst gebracht hat. Den besten Schuß indessen tat des Hügelvogtes Bruder, Gevatter Nirdamon, der Oberst-Wachtmeister der freiwillig-bergköniglichen Garde. Da er aber „nur des Spaßes halber“ geschossen habe, wie er gutmütig erklärte, übergab er den Siegespreis dem Besten nach ihm, einer noch recht jungen Steinmetzin mit Namen Rogmara, Tochter der Ralascha aus dem Stadtteil Heimeling, die vor Freude ganz rote Wangen bekam.

Eine Kuriosität bei diesen Spielen soll hier nicht unerwähnt bleiben: das sogenannte Jagdspiel, das eine Gruppe Fahrender aus Garetien mitgebracht hatte. Es handelte sich dabei um eine nach vorne offene Bude, deren Inneres mit einer Waldesszene bemalt war — ähnlich wie bei dem Stück „Im Wald, da haust der Jergenquell“ der Angbarer Puppenkiste. Vor dieser Kulisse nun konnten die Gehilfen dank eines simplen Mechanismus hölzerne Figuren — Rehe, Schwarzkittel und Hirsche — entlangziehen, auf die es mit einer kleinen Armbrust zu schießen galt. Vor allem Kinder freuten sich sehr über diese Attraktion, während so mancher gestandene Zwerg mit einem verwunderten Kopfschütteln daran vorüberging.

Die Nacht der sechszehnhundert Lichter

Es wurde dunkel. Die Praiosscheibe verschwand hinter den schwarzen Gipfeln des Koschgebirges und überließ den Himmel dem Fuchsgott und seinen Sternen. In vielen Schänken ging es noch hoch her, doch das Gros der Bürger zog, schon angeheitert und fröhlich schwatzend, hinab zum See, denn der Stadtrufer hatte ihnen ein unvergleichliches Spektakel angekündigt. Und wahrlich, als sie am Wasser standen und gen Osten schauten, sahen sie es funkeln, glitzern und glänzen, als sei der ganze See aus flüssigem Golde. Alle Boote, Kähne und Nachen der Gegend waren auf dem Wasser, und sechzehnhundert Lichter glühten durch das Dunkel der Nacht. Von Südosten, wo Schloß Grauensee steht, grüßte es silbrig herüber, und auch an andern Stellen waren die Ufer von kleinen Lichtergruppen bevölkert.

Der See aber lag glatt und friedlich wie ein Spiegel und verdoppelte die Pracht des Bildes. Da wurde es für einen Augenblick ganz still und feierlich, alle standen da und staunten über diesen Anblick, der sich in einem Menschenalter nicht mehr wiederholen wird. Auch die Thalessia war hell erleuchtet, und auf dem seewärts laufenden Balkone stand Durchlaucht Blasius, die Fürstinmutter Thalessia, Erbprinz Anshold samt Gemahlin Nadyana sowie Prinz Idamil, und sie betrachteten das Schauspiel mit Wonne.

Die Lichter aber wurden nicht gelöscht, man ließ sie niederbrennen und feierte in ihrem Schein bei Beerenwein und Kräuterschnaps die ganze Nacht hindurch, bis ein größeres Licht die vielen kleinen ablöste und der erste Tag tausendsechshundertundersten Götterlaufs in Angbars Chronik anbrach.

Karolus Linneger