Verloren in Fuhrmannsheim

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Die Praiosschreibe strahlte hell und sorgte für Licht und Wärme in Fuhrmannsheim. Doch einer Person im ärmlichen Stadtteil Ferdoks des Jahres 1032 BF hätte der Kontrast zu ihren Gefühlen nicht stärker sein können. Für Tsalinde Trutzbacher war eine Welt zusammengebrochen.

Ihr Freund Ardo vom Eberstamm war tot! Sie hatte den weiten Weg bis Ferdok zurückgelegt, dabei zahlreiche unerwartete Schwierigkeiten auf der Reise zwischendurch überwunden, und dann hörte sie von der Stadtwache, dass er kurz vor ihrer Ankunft ermordet worden war.

"Nie wieder..." ging es ihr durch den Kopf. Nie wieder würden sie sich zur Begrüßung kräftig umarmen. Nie wieder würden sie zusammen ein Helles Ferdoker trinken. Nie wieder würden sie zuammen lachen, während sie die neuesten Geschichten austauschten. Sie seufzte. Es war von Anfang an eine unwahrscheinliche Freundschaft gewesen. Sie war ihm auf einer seiner Reisen von Ochsenblut in Garetien zu seiner Stadtvilla hier in Ferdok begegnet. Obwohl er als Vetter des Fürsten zum höchsten Adel des Kosch gehörte, war er ein echter Haudegen gewesen, kein parfümierter Geck, wie sie anderswo im Mittelreich oder Lieblichen Feld üblich waren. Ein handfester und wagemutiger Anpacker, der sich nicht scheute, auch ungewöhnliche Kontakte zu pflegen. War ihm das zum Verhängnis geworden?

In die Trauer um den ermordeten Freund mischte sich die Sorge um die Sicherheit in der Grafenstadt: Ein Mörder, den sie nur den Roten Schlächter nannten, ging derzeit hier um! Die Gerüchte machten die Runde, und einige Informationen waren bedrückend: Als erstes hatte es einen Bettler erwischt, der Alter Eelko genannt wurde, und danach Sandor Kunger, einen bekannten und beliebten Immanspieler der Ferdoker Frettchen mit dem Spitznamen "der Drache".

Tsalinde schloss ganz kurz die Augen und atmete tief durch. Dann wurde sie wieder ihrer Umgebung gewahr. Das war auch gut so, denn Fuhrmannsheim war alles andere als ungefährlich. Am Osttor und der Reichsstraße VI war es relativ sicher, von Dieben einmal abgesehen. Doch für diese hatte sie ein Auge - schließlich war sie selbst eine von ihnen. Ansonsten war das Viertel reich an unübersichtlichen Gassen, die ideal für einen Hinterhalt waren. Vielleicht sah sie mit ihrer einfachen Kleidung - dem groben Leinenhemd, der Wollhose und den Halbstiefeln, dazu dem Gürtel mit den wenigen Habseligkeiten - nicht nach einem lohnenswerten Opfer für Angehörige ihrer Zunft aus. Mit ihrer eher kleinen Statur und dem Schopf aus dunklen Haaren stach sie sicher nicht aus der Masse heraus. Doch selbst wenn sie nicht auf offener Straße belästigt wurde, mochte hinter so mancher Ecke zwielichtiges Gesindel lauern.

Tsalinde schaute sich mit ihren neugierig aufblitzenden Augen diskret um. Eines fiel ihr auf: Es waren viel weniger Wachen zu sehen, als sie erwartet hätte. Vom Tor abgesehen, hatte sie in den Straßen Fuhrmannsheim noch kein einziges Mitglied der Stadtwache gesehen. Angeblich war der hier üblicherweise anwesende Feldwebel Erland nach Avestreu abkommandiert worden, um wegen der unklaren Lage in Ferdok die Umgebung abzusichern.

Ob einige der ärmeren Städter die Abwesenheit der Büttel nutzten, um einmal richtig über die Stränge zu schlagen? Trunkenbolde wankten am hellichten Tag aus dem Gasthaus Zur Sanften Sau. In der Kneipe ging es angeblich ziemlich rau zu. Tsalinde hatte nicht vor, es ohne triftigen Grund herauszufinden. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die sonstigen Leute auf der Straße.

In Fuhrmannsheim waren arme Schlucker und einfache Leut' unterwegs, anständige Diebe und phexgefällige Gesellen, aber auch Schläger und übles Gesindel, das eher an Räuber und Banditen im Wald erinnerte. Wenn sie sich nicht täuschte, erkannte sie sogar einige Schwarzaugen - Mitglieder einer organisierten Bande, die das Viertel beherrschte. Dem gewöhnlichen Reisenden konnten einige Feinheiten verborgen bleiben so wie das Schlössermesser in ihrer Tasche, aber wenn man wusste, worauf man achten musste, erschlossen sich einem interessante Einzelheiten. An der Ecke standen zwei Gesetzlose, die unbeschwert miteinander feixten, und in kurzer Zeit zählte Tsalinde drei Passanten, die es ebensowenig mit Praios halten würden.

Daneben gab es auch vertrauenswürdigere Gestalten: Fischhändlerin Strunkler pries ihre Waren an, Hufschmied Eisenzeh war fleißig bei der Arbeit und der griesgrämige Krämer Holdocht starrte stumm vor sich hin. Obwohl Ferdok so wie der Kosch zwergisch geprägt war, hatte Tsalinde bisher nur einen Angrosch auf der Straße erblickt. Doch jetzt sah sie einen weiteren Vertreter des kleinen Volkes durch die Gassen rennen, direkt auf die Tür der Sanften Sau zu. Der Kerl sah recht ungewöhnlich aus; die Lederkleidung passte eher in die Wildnis und wies entsprechende Schlammspuren auf. Er schien nichts darauf zu geben, wie die anderen Leute auf ihn reagierten, und hatte tatsächlich eine Armbrust geschultert!

Irgendwo spielten Musiker mit Flöte und Laute eine traurige Melodie, so als wollten sie Tsalinde trösten, doch die Eile des Angroschos erinnerte sie daran, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Noch war es hell, aber wenn es dunkel würde, wäre es hier überall unsicher. Hier hatte sie keine Kontakte. Außerhalb Fuhrmannsheims, nicht weit des Praiosplatzes, hatte sie in einer Seitengasse einen Verkäufer für Diebesausrüstung ausfindig machen können. Ob das reichen würde? Sie hatte ihre Zweifel. Jetzt wären ein Gebet und eine Spende an Phex angebracht...

Es war, als ob der Fuchs gezwinkert hätte, denn im nächsten Augenblick fing etwas ihren Blick. Es war eine einfache, unauffällige Holztür, doch irgendetwas war ungewöhnlich an ihr. Tsalindes Neugierde war geweckt. Seelenruhig schlenderte sie die Straße entlang, blieb kurz stehen, um dann in einem unbeobachteten Augenblick schnell durch die Tür zu schlüpfen...

Etwa eine Stunde später spazierte Tsalinde wieder durch Ferdok, nun ermutigt und mit neuer Zuversicht. In dem Keller, der einem gewissen Debero gehörte, hatte sie den geheimen Phextempel von Ferdok gefunden! Was für ein Glück! Natürlich hatte sie trotz ihres inzwischen arg zusammengeschrumpften Geldbeutels eine angemessene Spende erbracht. Mit dem Geweihten Cuano, der eine beachtliche Auswahl an Ausrüstung anzubieten hatte, hatte sie ein ausführliches Gespräch geführt. Phex sei gepriesen, das war ein Wendepunkt gewesen! Nun hatte sie eine Idee, wie es weitergehen könnte.

Sie würde ihre Mutter suchen, die sich wahrscheinlich irgendwo in der Grafschaft Ferdok aufhielt. In Rakulbruck, auf dem Weg nach Ferdok, hatte sie sie nicht angetroffen. Daher würde sie als nächstes den Großen Fluss hinab reisen bis nach Moorbrück. Sie waren beide immer recht unabhängige Geister gewesen, doch in Zeiten der Not galt es, zusammenzuhalten. Und wer weiß - vielleicht würde bald ein neues, fröhlicheres Abenteuer auf sie warten...