Praios mitten im Firun

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Ausgabe Nummer 70 - Phex 1044 BF

Praios mitten im Firun

Wie Sonnenschein ganz Angbar ängstigte

ANGBAR, Firun 1044 BF. Als am 4. Firun über Angbar die Praiosscheibe aufging, spiegelte sie sich gleißend auf verschneiten Dächern und im Eis entlang des Seeufers. Die Bürger der Stadt traten aus den Häusern, um sich nach Wochen des Nebels oder Schneetreibens endlich wieder von den Sonnenstrahlen wärmen zu lassen. Schnell begann es überall zu tauen, und bald ergoss sich das Schmelzwasser in Bächen aus den Traufen und durch die Gassen.

Am Abend war das glänzende Firunskleid gänzlich verschwunden. Ein wenig wunderten sich die Angbarer schon über den unverhofften Frühlingstag, zumal deutlich zu sehen war, dass die Berge wie auch das Ufer von Zwischenwasser immer noch tief wolkenverhangen waren. „Der Rabbatzmann bläst auf die Dächer der Stadt“, erklärten Großeltern ihren Enkeln das ungewöhnliche Wetter.

Und die Puste schien ihm nicht ausgehen zu wollen – der nächste Tag war genauso sonnig und noch wärmer, und am 6. Firun glaubte man sich mitten im Hochsommer. Reisende, die in die Stadt kamen, versicherten derweil, dass schon in Stippwitz und Findelstin der Schnee noch schritthoch liege. Langsam wurde der Sommer im Winter den Bürgern unheimlich; irgend etwas Übernatürliches musste da wahrlich vorgehen.

Ähnlich sahen das auch die Rohalswächter. Aus dem Ordenshaus westlich von Angbar kam am 8. Firun die Vorsteherin Wilmunde Wolkenwetter mit zwei Kolleginnen und inspizierte jeden Winkel der Stadt mit strenger Miene. Was sie herausfand, teilte sie einzig dem Reichsvogt und der Prätorin des Praiostempels mit, doch schien es bedenklich, denn auch zum Fürsten im Erlenschloss wurde ein Bote entsandt. Es mochte doch nicht ein neuer Trick der verderbten Charissia sein? So munkelte man in den Tavernen – oder besser vor den Tavernen, denn die Wirte hatten ihre Tische und Bänke alle ins warme Sonnenlicht hinausgestellt. Finstere Machenschaften hin oder her, das Wetter wollte man nutzen, wer wusste, wie lange es noch dauern würde.

In der Nacht machten die Mauerwächter dann eine Beobachtung, welche die schlimmen Befürchtungen zu bestätigen schien. Im alten Steinkreis nördlich von Heimeling glommen plötzlich zahlreiche Lichter auf, Trommeln wurden geschlagen und gutturaler Gesang erklang. Ein geheimes Ritual? Man ließ den Reichsvogt wecken, dieser eilte zum Praiostempel, um sich mit Prätorin und Inquisitorin zu besprechen, dann mobilisierte man die bergkönigliche Garde und die Hellebardiere. Unterdessen waren einige sogenannte „Heldengruppen“ bereits über die Stadtmauer gestiegen und zum Steinkreis gerannt. Im Dunkeln war schwer zu erkennen, ob sie dort in Gespräche oder in Kämpfe verwickelt worden waren.

Als Reichsvogt und Praioten nebst bewaffneter Begleitung endlich am Ort des Geschehens eintrafen, waren die Trommelschläge und Gesänge schon verklungen und die meisten Lichter erloschen. Zwei Angroschim erwarteten sie, um Licht ins Dunkel der Vorgänge zu bringen. Augenzeugen wollen sie als den schrulligen Einsiedler Bruder Emmeran und den Geoden Kerasch den Dunklen erkannt haben. Was sie erzählten, schien den Herrn von Stippwitz und die Dienerinnen des Götterfürsten zwar zu verärgern, aber auch so weit zu beruhigen, dass sie alsbald in die Stadt und in ihre Betten zurückkehrten.

Am andern Tag verkündeten die Herolde des Rats der Zünfte, es habe in der Nacht eine harmlose Zusammenkunft einer Bruderschaft der Angroschim im Steinkreis stattgefunden und es bestehe keinerlei Grund zu Besorgnis. Auch der Winter werde in Kürze zurückkehren. In der Tat warf der Herr Firun zwei Tage später erneut ein weißes Kleid über die Reichsstadt und mancher Angbarer fragte sich im Stillen, ob er den Sommer im Winter nur geträumt hätte.

Rahjatreu von Cellastein