Neues aus Hohentrutz - Die Weihe

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Siedlung Hohentrutz in Moorbrück, im Rondra 1033 BF, an einem bedeckten Vormittag

Dunkle Wolken zogen sich über Hohentrutz zusammen.
Robans Blick wanderte zwischen dem Himmel und dem Sumpf hin und her, und mit jeder Sekunde wuchs seine Sorge. Heute war es soweit, der kleine Schrein der Siedlung sollte geweiht werden, von seinem Verwandten, Lehrmeister und Freund Answein Grobhand von Koschtal.
Und ausgerechnet der ließ auf sich warten. Dabei konnte man dem Viertelork einiges nachsagen, dass er aufbrausend und grobschlächtig war – unpünktlich war er aber nicht, und jede Sekunde ließ die Unruhe des Ritters wachsen.
Seine Siedler gingen ihm schon seit einer geschlagenen Stunde aus dem Weg, denn seine Laune war mindestens so düster wie der Himmel. Sogar Danja und Thurescha hatten es vorgezogen, einen Bogen um den brummelnden Koschtaler zu machen, der wie ein gefangenes Tier im Dorf herum lief, in den Sumpf starrte, wieder zum Himmel, leise fluchte und weiter ging.
Besonders Rondred Brotbäck, der im besten Praiostagsgewand seine einsame Wache stand, hatte darunter zu leiden, denn er sollte ebenfalls Ausschau nach dem so sehnlich erwarteten Geweihten halten. Mindestens drei Dutzend Male hatte Roban schon gefragt, und jedes Mal hatte Rondred nichts melden können, und ebenso regelmäßig hatte er sich einen kleinen Wutausbruch anhören dürfen. Zwar war er nicht das Ziel des Unmutes und auch nicht der Beschimpfungen, trotzdem sah man ihm an, dass sogar er heute seinen Posten liebend gern an jemand anderen abgetreten hätte.
„Immer noch nichts?“ fragte Roban auch jetzt den Einarmigen, der nur wortlos den Kopf schüttelte.
„Orkendreck und Ogerschiss! Diese Warterei macht mich noch wahnsinnig!“ knurrte der Ritter kopfschüttelnd.
Er hätte Answein entgegen gehen sollen. Sicher, der Geweihte war ein fabelhafter Kämpfer, ein harter Knochen, erfahren und umsichtig, aber er war auch schon über sechzig Sommer alt! Was, wenn er durch Sumpfrantzen angegriffen wurde, durch so eine Riesenkrabbe, durch götterloses Gesindel, dass nicht mal vor dem Geweihtenornat halt machte, oder ganz schlicht vom Weg abkam und unrettbar im Sumpf versank. Die Gedanken machten ihn rasend!
Da hob Rondred plötzlich den Arm und deutete nach Osten.
„Dort, Herr! Dort kommt jemand!“ rief er mit ehrlicher Erleichterung.
„Endlich!“ seufzte Roban und lief sofort los, um den hohen Gast zu begrüssen, noch ehe er den Siedlungshügel erreicht hatte.
Kaum, dass der Ritter losgelaufen war, trat erneut jemand neben Rondred.
„Gepriesen sei Aves“, seufzte die Maga Danja Salderken erleichtert.
„Endlich hat die Warterei ein Ende, und man wird sich Wohlgeboren wohl wieder gefahrlos nähern können!“
Für einige Sekunden blickte sie dem Ankömmling ebenfalls entgegen, legte die Stirn in Falten.
„Reist seine Gnaden inkognito?“ wandte sie sich dann an den Einarmigen.
Dieser runzelte die Stirn ebenfalls.
„Nein, gelehrte Dame, ich glaube, er wollte zu Fuß kommen, nicht in einer Kutscher oder einem...Kognito“, sagte er dann vorsichtig, als sei er nicht sicher, ob er ihre Frage damit richtig beantwortete.
Danja schluckte eine entsprechende Erklärung herunter. Die Fachworte würde sie sich dringend abgewöhnen müssen – oder sich jemanden suchen, der sie verstand!
„Ich meinte, reist der Geweihte in Zivil? Die Person, die dort kommt, scheint mir nicht im Ornat der Rondra-Kirche unterwegs zu sein“, führte sie dann ihre Bedenken aus.
„Stimmt“, pflichtete Rondred ihr bei.
„Vielleicht ein verirrter Wanderer! Krambolde werden uns so bald gewiß nicht aufsuchen.“
Danja wusste zwar nicht, was ein „Krambold“ war – vermutlich die hiesige Unterart der Kobolde -, entschied aber, Roban vorsichtshalber zu folgen, damit er nicht einen völlig Fremden aus reiner Frustration erschlug.

Robans Schritte griffen weit aus.
Zumindest anfangs. Dann wurden sie kürzer und langsamer, denn die Person, die dort durch den Sumpf schritt, war alles mögliche, aber bestimmt nicht Answein Grobhand von Koschtal!
Statt einem gerüsteten Geweihten nahte dort ein untersetzter Bursche Mitte zwanzig, mit schütterem Bart, Augengläsern und einem prallen Rucksack, und beim Näherkommen gesellte sich zu diesem ersten Eindruck noch ein unsicheres Lächeln.
„Hast du dich verlaufen? Nach Hammerschlag geht´s in die andere Richtung!“ rief Roban, als er noch zehn Schritt entfernt war.
Der andere trat vor ihn hin und verneigte sich leicht.
„Von Hammerschlag komme ich, und ich suche die Siedlung Hohentrutz. Darf ich annehmen, daß Ihr der Ritter Roban Grobhand von Koschtal seid?“
„Ja“, sagte Roban gedehnt und legte eine Hand an den Schwertgriff. Wer außer Answein sollte ihn hier suchen wollen? Er hatte zwar aktuell keine Feinde, aber sein Nachbar war ein Goldmund von Koschtal, da war einfach alles denkbar, auch wenn der Fremde nicht gerade wie ein gedungener Meuchler aussah.
„Wenn ich mich vorstellen darf, Wohlgeboren: Tradan Schmalklos, Korrespondent des Kosch-Kuriers!“ Der ersten Verbeugung folgte eine zweite.
Roban blinzelte einige Male ob dieser Worte.
„Du bist...WAS?“ schnappte er dann unwillig.
„Äh...Korrespondent“, wiederholte Tradan dann vorsichtig.
„Ist mir doch wurscht, ob du dir Nachts ins Bett pisst und dann mit dem Kosch-Kurier aufwischt!“ brüllte Roban dann los.
„Was zum Gehörnten willst du hier?“
„Roban!“ Eine sanfte Stimme unterbrach seinen Wutausbruch.
Danja war etwas aus der Puste, grinste aber schon wieder, als habe man ihre Mundwinkel an den Ohren angenagelt.
„Der Mann ist Korrespondent, nicht inkontinent“, schnaufte sie dann.
„Er schreibt für eine Gazette!“
Der Ritter blickte von Danja zu Tradan und wieder zurück.
„Ein Schreiber? Ein Grünling? Was zum Donner will der hier? Ich brauche keinen Schreiber, und den Kosch-Kurier kann ich noch lesen, wenn ich mal wieder auf Hohenbirn bin. Rondrolf sammelt sowieso jede Ausgabe wie ein Drache die Goldstücke! Ich brauch nen Geweihten und keinen Griffelschwinger!“
Robans Stimme wurde mit jedem Wort lauter, scheuchte gar einige Vögel in der Nähe auf, die laut schreiend davon flogen.
„Äh...Wohlgeboren?“ versuchte Tradan erneut, sich zu erklären.
„Natürlich habt Ihr mich nicht bestellt. Es verhält sich vielmehr so, daß die Moorbrücker Neusiedlung von der Allgemeinheit der Koscher ebenso wie von den Edelleuten, dem Fürsten gar, mit großem Interesse verfolgt wird. Daher hielt es unsere Redaktion für angemessen, sich über den Fortgang der Arbeiten zu informieren, um die geneigte Leserschaft diesbezüglich auf dem Laufenden zu halten! Und da mir zu Ohren kam, daß Ihr in absehbarer Zeit die Weihe des von seiner Durchlaucht gestifteten Schreines vorzunehmen gedenkt...“
„Heute, du Labertasche!“ fuhr Roban ihn ungeduldig an.
„Heute soll der Schrein geweiht werden! Nur der Geweihte fehlt noch! Dafür habe ich einen Tintenkleckser, den ich so sehr gebrauchen kann wie einen Bolzen im Schädel!“
„Roban“, versuchte Danja erneut eine Beschwichtigung.
„WAS DENN?“ Robans wutverzerrte Miene wandte sich der ungerührt dastehenden Maga zu, die einfach nur Richtung Hammerschlag deutete.
Dort nahte eine zweite Person, ein weißer Fleck in der eintönigen Sumpflandschaft. Trotz der Entfernung war das rote Löwenbild auf dem Ornat als roter Farbtupfen zu erkennen.
Roban warf die Hände gen Alveran.
Rondra sei Dank!“ rief er.
„Danja, schmeiß den Schreiber ins nächste Sumpfloch und sag in der Siedlung Bescheid!“
Und schon eilte er wieder davon, seinem einstigen Lehrer entgegen.
„Äh“, machte Tradan Schmalklos und blinzelte jetzt Danja unsicher an.
„Äh, ich meine, Wohlgeboren meinte das doch hoffentlich nicht ernst...das mit dem Sumpfloch...“, fragte er dann vorsichtig.
Die Maga grinste amüsiert, schüttelte dann aber den Kopf.
„Nein, Herr Schmalklos“, beruhigte sie (und lachte im Stillen noch ein wenig über die wirklich possierlichen Namen dieser Koscher).
„Sie werden den etwas merkwürdigen Humor des Ritters noch verstehen lernen!“

Noch hatte es nicht angefangen zu regnen, als die vier Personen Hohentrutz erreichten.
Danja hatte den Geweihten artig begrüsst und dabei aufmerksam, aber nicht unverschämt betrachtet. Roban hatte erzählt, dass in Answeins Adern Orkblut floss, und wenn man genau hinsah, bemerkte man tätsächlich leicht vorspringende Kiefer, eine fliehende Stirn und mächtige Zähne. Damit war die Ähnlichkeit zum Glück erschöpft.
Von Roban schien eine Zentnerlast gefallen zu sein, als er den Geweihten den Hügel hinauf führte, trotz des drohenden Unwetters. Die Siedler erwiesen ihrem hohen Gast die ihm zustehende Ehre, dann trat dieser ohne Umschweife zu dem kleinen Schrein im Zentrum der Siedlung, dicht gefolgt von Roban und Danja, und in deren Windschatten trabte Tradan Schmalklos mit einem auf ein Brett genageltem Pergament, den Kohlestift in der Hand.
Für schier endlose Sekunden betrachtete Answein Grobhand von Koschtal das kleine Göttinnenbildnis im Schrein mit gerunzelter Stirn. Danja hatte es sich einige Stunden zuvor ebenfalls angesehen.
Es war schlicht, eine gerüstete Kriegerin mit Zweihänder, der Körper schlank und kräftig, das Kinn kampflustig vorgereckt, Entschlossenheit im Blick, doch ohne jedes Zierrat, ohne Edelmetalle, ohne Sinnsprüche für die Gläubigen, einfach eine kleine Statuette aus Granit.
Schließlich lächelte der Geweihte, und Zufriedenheit sprach aus seinem Blick.
„Sehr schön. Ohne unnützen Tand und Firlefanz, für den die Herrin ohnehin nichts übrig hat. Konzentration auf das Wesentliche!“ meinte er dann.
„Dann zeig mir jetzt noch die Siedlung. Ihr scheint ja gut vorangekommen zu sein.“
„Wohlgeboren, könnte ich einen Kommentar zum Fortschritt ihrer Arbeiten bekommen?“ mischte sich jetzt Tradan ein, und nachdem der Geweihte aufmunternd genickt hatte, räusperte Roban sich unbehaglich und kratzte sich im Nacken.
„Tscha, Kommentar“, grübelte er laut. „Die Häuser stehen, der Brunnen auch, die Entwässerungsgräben wachsen jeden Tag, Dinkel und Emmer gedeihen leidlich, und unser Schrein bekommt heute seine Weihe. Ich würde sagen, gar nicht schlecht für ein paar Monde Arbeit! Sicher, wir müssen noch einen ordentlichen Knüppeldamm bauen, und ne Palisade, damit uns nicht jedes dahergelaufene Vieh auf´s Dach steigen kann...aber dass Holz dafür hierher zu karren ist echt ein Umstand, dass kann ich dir flüstern! Mit Wagen kann man nich fahren, die bleiben im Morast stecken, ehe man die Namen aller Zwölfe rausgebracht hat. Wir haben es mit Knüppelmatten versucht...“
„Knüppelmatten?“ fragte Tradan, ohne von dem Pergament aufzublicken, dass er emsig mit krakeligen Buchstaben bedeckte.
„Ja, Knüppelmatten halt“, Roban verlegte den Fokus seines Kratzens an das Kinn, „das sind große Matten, aus Schilf geflochten, die man vor die Fuhrwerke legt, damit sie nicht absaufen. Quasi ein Knüppeldamm zum Mitnehmen. Auf die Idee bin ich durch Danjas Sumpflatschen gekommen, aber man braucht mit diesen Dingern ewig, um voran zu kommen. Wir haben es ausprobiert. Man schafft am Tag mit viel Mühe eine, vielleicht eineinhalb Meilen, und die Zugtiere gehen auf dem Zahnfleisch, weil sie immer wieder von neuem anziehen müssen, und...“
„Sumpflatschen?“ kam gleich die nächste Frage.
„Magistra Salderken“, ergriff jetzt der Geweihte wieder das Wort.
„Hättet Ihr die Güte, dem wissbegierigen Herrn Schmalklos diesen Begriff zu erläutern? Ich hätte mit Seiner Wohlgeboren noch das ein oder andere unter vier Augen zu klären!“
Danja verneigte sich knapp.
„Selbstredend, Euer Gnaden“, erwiderte sie, fasste Tradan am Arm und zog ihn mit sich.
„Habt Ihr schon mal einen Artikel über die Auswirkungen immanenter heptasphärischer Kontamination in humiden Biotopen verfasst? Nein, nun, dann habt Ihr jetzt die Chance, journalistische Pionierarbeit zu leisten...“

Sie hätte vor Neugier platzen können.
Roban und der Geweihte hatten aber genügend Abstand zwischen sich und mögliche unerwünschte Zuhörer gebracht, als das sie ohne magische Hilfe ein Wort hätte erhaschen können. Und selbst wenn sie wirklich einen Zauber hätte anwenden wollen, wäre dies dem eifrigen Herrn Schmalklos wohl kaum verborgen geblieben, der sich redlich mühte, das zu Pergament zu bringen, was sie ihm zu ihrer Arbeit diktierte.
Das Gespräch mit seinem Verwandten schien Roban nicht besonders zu behagen. Mehrfach kratzte er sich im Nacken, deutliches Zeichen für Unsicherheit, und blickte in den Sumpf, als wolle er dem Blick des Geweihten ausweichen. Irgendwie erinnerte er Danja in diesem Moment an einen Praiostagsschüler, der einen Tadel erhielt. Fehlte eigentlich nur, dass er den Blick senkte und verlegen mit den Füssen scharrte.
Was mochte Answein ihm wohl vorhalten, dass Roban keine Widerworte gab. Sonst war er ja wirklich nicht besonders zimperlich in derlei Dingen, doch der Geweihten schien – nicht nur ob seines Amtes – Robans größten Respekt zu geniessen.
Und gerade deswegen hätte es sie brennend interessiert, welches Thema die so offensichtliche Standpauke hatte. Aber Tradan Schmalklos ließ ihr keine Möglichkeit, dieses Neugierde zu befriedigen.
„Habe ich das hier richtig geschrieben?“
Das angenagelte Pergament rückte in ihr Blickfeld. Der Finger des Schreibers ruhte auf einem der letzten Worte. „Hebdasfärisch“ las sie.
„Verzeiht die indiskrete Frage, Herr Schmalklos“, sagte sie langsam, als sie weitere, eklatante Fehler in der Rechtschreibung fand. Eine Zeichensetzung fehlte gar gänzlich.
„Aber wie lang, sagtet Ihr, steht Ihr in den Diensten des Kosch-Kurier?“
Der Schreiber presste die Lippen zusammen.
„Seit zwei Sommern“, erklärte er dann.
„Aber nur als Schreibstuben-Gehilfe. Federkiele anspitzen, Tintenfässer auffüllen, Pergamente abschaben und so. Als Schreiber erst eine Woche – auf Probe, hieß es. Das hier“, er machte eine weit ausholende Geste, „ist meine große Chance!“
„In diesem Falle solltet Ihr an Eurer Orthographie arbeiten“, riet Danja. Tradan blickte an sich herab und schien seine Orthographie zu suchen.
„Der Rechtschreibung“, erklärte Danja schmunzelnd.
„Äh, da liest noch...jemand drüber...falls es gedruckt wird“, entgegnete Tradan kleinlaut, und beinahe tat er Danja ein wenig leid. Ein Schreiber, der im Schreiben nicht besonders gut war, das hatte schon eine gewisse Tragik.
Zu einer Entgegnung kam sie aber nicht mehr. Ein kalter Tropfen traf sie im Nacken, wohl eine Art Vorhut, der einer ganzen Armee von ebenso kalten Wassermassen voran fiel. Fast zeitgleich ertönte ein dumpfes Grollen in der Ferne.
„Wohlgeboren, wir sollten reingehen!“ rief sie zu Roban hinüber.
„Wozu das, gelehrte Dame“, antwortete an seiner Statt der Geweihte.
„Die wichtigste Person bei dieser Weihe kündigt ihr Kommen an! Ruft die Leute zusammen! RONdra will es, und wir werden sie nicht warten lassen!“

Niemand sprach ein Wort der Klage.
Und das, obwohl nicht nur Rondra in ihrem Donnersturm in voller Fahrt über das Alveranszelt brauste, wenngleich in einiger Ferne. Sie hatte wohl auch ihren göttlichen Gemahl Efferd zu einer Spazierfahrt eingeladen, und der ließ seinen Segen überreichlich auf die Siedlung fallen.
Doch das Unwetter schien den Geweihten keine Sekunde lang zu bremsen, es schien ihn vielmehr in seiner Absicht zu bestärken, die Weihe genau jetzt vorzunehmen. Und es kam Danja wie ein Wunder vor, dass sie – trotz ihrer mangelhaften Hingabe an den Rondra-Glauben – weder Nässe noch Kälte besonders spürte, als webe die Heiligkeit des Momentes einen unsichtbaren Schild um die versammelten Hohentrutzer, um sie vor derlei Unbill zu schützen.
„Hohentrutzer!“ begann Answein Grobhand von Koschtal seine Predigt.
„Vor wenigen Wochen erst habt ihr für euch beschlossen, euer bisheriges Leben aufzugeben, um hier, an dieser Stelle, eine neue Siedlung zu gründen, eine neue Bastion gegen die Gefahren des Sumpfes. Wenn ihr Angst habt vor den Gefahren, die eurer hier harren mögen, wenn ihr Sorgen habt wegen der Zukunft, die vor euch liegt, seid gewiss – die Herrin RONdra kennt eure Ängste und Sorgen, und sie tut keine davon leichtfertig ab. Nehmt diese Weide“, er deutete auf den einsamen Baum auf der Hügelkuppe, „als Beispiel. Mag sie auch keine Steineiche sein, die der Herrin wohlgefällig ist, so hat sie sich doch behauptet, in trockenen Sommern und eisigen Wintern, bei Sturm und Dürre, in Hitze und Frost, hat sie aller Unbill getrotzt. Wie diese Weide es tat, so trotzt auch ihr allen Gefahren, die der Sumpf beinhalten mag, so überwindet die Ängste, die eure Herzen und Seelen fesseln könnten. Vertraut auf die Stärke, die RONdra jenen schenkt, die mutig ihre Aufgabe angehen, denn ein Kampf, er sei mit dem Schwert wider den Feind, es sei mit der Schaufel gegen den Sumpf, wird stets im Herzen entschieden. Seid tapfer und standhaft wie jene Weide, dann wird RONdra stets an eurer Seite sein, wird euch Schild und Wehr wider alle Gefahren sein.“
Er nickte Roban kurz zu, und dieser gab das Nicken in Richtung des Schweinehirten Runkel Sackfold weiter, der mit einem Widder in der Reihe der Siedler stand und sich jetzt in Bewegung setzte, sogar entgegen seinem üblichen Benehmen beinahe würdevoll einherschritt.
Die Weihe war kurz, dennoch fühlte Danja sich innerlich berührt. Als das Blut des Opfertieres den kleinen Schrein netzte, schien wahrlich ein Hauch göttlicher Macht über Hohentrutz zu liegen, ein dumpfer Donnerschlag in der Ferne klang wie eine Bestätigung der Worte des Geweihten. Einige der durchnässten Siedler hoben gar stolz, regelrecht kühn, die Häupter, als wollten sie dem Sumpf jetzt erst recht die Stirn bieten. Und selbst die Maga spürte die Zuversicht. Es war keine Garantie, dass man es schaffen würde, aber die Zusage, dass man es zumindest schaffen konnte.
„Wer es wünscht, der empfange nun den Segen der Herrin!“
Answein Grobhand von Koschtal blickte die Versammelten an. Das Haar hing ihm in nassen Strähnen ins Gesicht und verlieh dem alten Geweihten einen beinahe wilden Ausdruck.
Es war keine große Überraschung, dass Roban als erster vortrat und das Knie vor Answein und der Göttin Rondra das Knie beugte.
„Roban Grobhand von Koschtal“, erklärte Answein feierlich, „Euch sind die Leben dieser Menschen anvertraut. Dem Adel gestanden die Götter besondere Rechte zu, und besondere Pflichten. An Euch liegt es, diese Leben gegen alle Gefahren des Sumpfes zu schützen, auch um den Preis Eures Lebens! Seid Ihr bereit, diese Eure Pflicht zu erfüllen?“
„Der Herrin Wille sei mein Befehl!“, kam die Antwort ohne jedes Zögern.
„Dann empfangt den Segen der Herrin! RONdra will es!“
Mit dem Blut strich Answein dem Ritter drei Striche auf das Gesicht, über das Herz und über die Hand. Das Blut des Opferwidders vermischte sich mit dem Regenwasser, und für einen Moment schien es tatsächlich, als habe Roban drei Schläge einer riesigen Löwin einstecken müssen.
Dass Rondred Brotbäck der Nächste war, den Segen Rondras für sich zu erbitten, war gleichfalls keine große Überraschung, und auch der Abenteurer Sindar Goblindodt reihte sich ein.
Dann aber setzte sich mit einem Ruck Firundal Sackfold in Bewegung, der Sohn des Schweinehirten, ein stiller, gedrungener Bursche von siebzehn Sommern. Noch ehe ihn sein resoluter (und gewiß nicht rondragläubiger) Vater daran hindern konnte, trat er vor den Geweihten und kniete nieder.
Danja bemerkte den Anflug eines Lächelns in der ansonsten steinernen Miene Answeins.
„Die Herrin blickt mit Wohlgefallen auf einen jeden, dessen Herz von Ihrem Geist erfüllt ist, ungeachtet von Herkunft und Stand.“
Mit schnellen Bewegungen zeichnete er den Burschen mit dem Blut.
„Geh hin mit RONdras Segen, Bursche. Und wenn der Tag kommt, da du Ihren Beistand brauchst, sei gewiß: Die Herrin der Kriege steht jedem Tapferen treu zur Seite! RONdra will es!“
Auf dem Gesicht Firundals lag ein merkwürdig verklärter Ausdruck, als er sich wieder erhob. Und Danja bemerkte, dass sein Vater mühsam um seine Beherrschung kämpfte – er schien die Begeisterung seines Sohnes für die Kriegsgöttin weder zu teilen noch besonders gut zu heißen.
Doch das konnte der ansonsten wenig rücksichtsvolle Mann schlecht vor einem Diener Rondras zum Ausdruck bringen.
Die Magierin schmunzelte innerlich. Sie selbst hatte nie eine besondere Verbindung zu Rondra besessen. Zwiste mit Gewalt zu klären empfand sie als unkultiviert, ebenso Personen, die ihre Argumente am Gürtel zu tragen pflegten.
Doch diese stille Rebellion Firundals gegen das herrische Regiment seines Vaters amüsierte wohl nicht nur sie, denn sie sah einige andere Siedler verhalten grinsen.
Allerdings war Firundal auch der letzte, der Rondras Segen erbat, so dass Answein die Weihe mit wenigen Worten beschloß und dann in Richtung der Hütten deutete.
„Und jetzt, werte Hohentrutzer, sollten wir diesen guten Tag würdig, vor allem aber trocken feiern!“

Es wurde Abend, bis alle wieder trocken waren, doch der Hochstimmung in Hohentrutz tat dies keinen Abbruch.
Die Siedler verteilten sich auf die Häuser und ließen sich den seltenen Festtagsschmaus schmecken.
Im Wohnhaus des Ritters teilten einige Decken den Wohnraum in zwei Hälften. In der Vorderen schlemmten Salwine Zwingler und die einfachen Bewohner des Hauses, die Hintere blieb Roban, dem Geweihten, Danja und – zum Leidwesen des Ritters – dem Schreiber Tradan Schmalklos vorbehalten, der seine Anwesenheit der schmunzelnden Fürsprache Answeins verdankte.
Mit einem gänzlich unstandesgemäßen Jubelschrei hatte Roban reagiert, als Answein von der Befreiung Warunks durch die Streiter Rondras berichtete. Die frohe Kunde aus Schwarztobrien hatte bis jetzt noch nicht seinen Weg ins Moorbrücksche gefunden, doch selbst jetzt schien die Freude des Ritters grenzenlos über diesen Sieg.
Weniger begeistert war Tradan Schmalklos von dem Bericht über den Angriff des Untoten im letzten Mond, der sich als Bote des Kosch-Kurier herausgestellt hatte. Auch diese Kunde hatte ihren Bestimmungsort noch nicht erreicht, zumindest nicht vor jenem Tag, als der Schreiber Ferdok in Richtung Moorbrück verlassen hatte.
„Ich werde...einen Nachruf auf den tapferen Mann verfassen“, murmelte er betroffen.
„Falls ich einen Rat geben darf – die wahren Umstände des...Leichenfundes solltet Ihr mit Rücksicht auf die Hinterbliebenen verschweigen“, riet Danja mitfühlend, und Tradan nickte.
„Ja, das ein oder andere mag dem borongefälligen Vergessen anheim fallen. Und wo wir gerade dabei sind“, er räusperte sich, ehe er das Wort an Roban richtete.
„Wohlgeboren, dank Euch konnte ich einen guten Eindruck von Hohentrutz gewinnen, und Ihr dürft fürwahr stolz sein auf das Erreichte!“
„Das sind wir!“ grinste Roban, der die Befreiung Warunks schon mit einigen Krügen Angbarer Dunkel gefeiert hatte.
„Nun“, erneut räusperte Tradan sich, „diese Fortschritte sind wirklich sehr...bemerkenswert. Doch fürchte ich, dass unsere geschätzte Leserschaft Eure Aufgabe als zu...einfach auffassen könnte, wenn sie von derlei raschem Voranschreiten der Neusiedlung erfährt. Einer der älteren Schreiber meinte, der Bericht dürfe nicht zu...alltäglich sein.“
Roban blinzelte einige Male und setzte den Bierkrug auf den Tisch, ohne getrunken zu haben.
„Was heißt denn das schon wieder?“ schnauzte er den Schreiber unwillig an.
„Herr Schmalklos meint wohl, das öffentliche Interesse an Hohentrutz und den anderen Siedlungen könnte schwinden, wenn man meint, dass die Arbeit so problemlos und zügig voranschreitet, wie es in Hohentrutz der Fall zu sein scheint“, erklärte Answein lächelnd.
„Und so ganz unrecht hat er wohl auch nicht. Sicher, ihr alle arbeitet hart, der Sumpf ist wahrlich keine schöne Umgebung voller Gefahren, urbares Land ist rar. Doch das gleiche, Roban, gilt wohl auch für manch armen Bergbauern in den Koscherlanden, der ebenfalls ein hartes Dasein auf kärglichen Äckern fristet, stets bedroht von wildem Getier und widrigem Wetter.“
Der Ritter schürzte die Lippen und hob die Brauen. Derlei Argumentation schien sogar ihm einzuleuchten.
„Schön. Interessiert es sie halt nicht“, meinte er dann schulterzuckend.
„Da von der geschätzten Leserschaft hier noch keiner die Schaufel schwingt, kann mir das am...“
Ein diskreter Knuff in die Rippen brachte ihn zum Verstummen. Er warf der Urheberin einen finsteren Blick zu, vollendete den Satz aber nicht.
„Mangelndes öffentliches Interesse, Wohlgeboren“, meinte die Maga beiläufig, „könnte sich in mangelnder öffentlicher Unterstützung Eures Projektes manifestieren. Derlei Entwicklung wäre wohl kaum in Eurem Interesse!“
Roban blickte vom Geweihten zur Schreiber zur Maga, zum Schreiber, zum Geweihten und eine Weile in seinen Bierkrug, als läge dort alle Weisheit der Welt verborgen.
„Schöner Mist!“ meinte er dann.
„Da schuften wir uns den Hintern aus der Hose, damit alle anderen dann zufrieden nicken können und denken, alles bestens in Moorbrück!“
„Ganz recht, ganz recht“, pflichtete Tradan bei.
„Wenn man die Umstände in Hohentrutz aber etwas widriger darstellen könnte, dann wäre das Interesse und die Anteilnahme für die wagemutigen Siedlern gewiß größer! Wenn man die Sache mit der...“, er blätterte kurz in seinen teilweise etwas durchweichten Aufzeichnungen, „...mit der Krabbe etwas dramatischer erzählen könnte, vielleicht mit einigen zusätzlichen Krabben, dann wäre das ohne jeden Zweifel eine Geschichte, welche das Interesse der Leser wecken würde!“
„Bleiben wir doch lieber bei der Wahrheit, Herr Schmalklos“, mahnte Answein streng.
"Das Interesse der Leserschaft in allen Ehren, doch allzu schrecklich sollte man das Leben in Hohentrutz nicht darstellen. Immerhin hofft der Ritter ja, weitere Siedler zu gewinnen.“
Roban hatte die Inspektion seines Bierkrugs mittlerweile beendet.
„Sicher, übertreiben müssen wir es ja nicht“, meinte er sinnend.
„Aber wir müssen ja auch nicht mit unseren Fortschritten hausieren gehen...ich meine, wer weiß denn schon außerhalb von Hohentrutz, wie es hier aussieht?“
Answein runzelte die Stirn, und auch Danja wandte sich Roban zu.
„An was genau denkst du dabei?“ fragte der Geweihte lauernd. „An unsere ersten Tage hier“, erklärte Roban unumwunden. „An die Zelte, in denen wir hausen mussten, an das Gemecker des alten Sackfold und das Gejammer der noch älteren Glimminger, dass man nicht mal anständige Häuser habe – das eigene Heim ist dem Koscher heilig! Wenn man also schreibt, dass die Häuser noch nicht ganz fertig sind...“
„...wirkt das Leben hier gleich beschwerlicher“, folgerte Danja.
„Wohlgeboren – ich staune!“
Der Ritter grinste schief ob dieses seltenen Lobes, während der Geweihte erst die Stirn runzelte und dann scheinbar resignierend die Brauen hob.
„Schön, dann schreibt von Zelten“, willigte er an den Schreiber gewandt ein.
„Wir nennen es eine Finte, dann kann ich damit leben, und Rondra vergebe mir!“
Mit diesen Worten erhob er sich ächzend.
„Und nun würde ich meine alten Gebeine gern irgendwo zur Ruhe betten! Roban, ich hoffe, du hast auch daran gedacht!“
„Selbstredend, Euer Gnaden!“ Der Ritter stürzte den Rest Bier in sich hinein und sprang auf.
„Euer Lager ist gleich dort, in der größten Nische, bereitet!“
„Sehr schön“, der Geweihte besah sich die Ruhestatt, „und wo schläfst du?“
Roban hob die Schultern.
„Keine Ahnung. Je nach Zustand auf oder unter dem Tisch“, meinte er dann lapidar.
„In meiner Nische wäre noch ein Platz frei“, schlug Danja vor.
„Falls Euch meine Präsenz nicht stört!“
Sie schickte Roban einen kecken Augenaufschlag.
Warum die gute Gelegenheit nicht nutzen und die Feier noch zu zweit fortsetzen, dachte sie sich. Es kam selten genug vor, dass Roban guter Dinge war, dazu noch leicht alkoholisiert...und auch Magier hatten durchaus sehr menschliche Bedürfnisse. Zudem schien ihr ein kleiner Rahjasdienst ein würdiger Abschluß für diesen guten Tag zu sein, und sie hoffte inständig, dass der Ritter ebenso empfand.
„Stört nicht!“ erklärte Roban denn auch mit erneutem Schulterzucken.
Direkt nach dem Geweihten verabschiedete sich auch Tradan Schmalklos für die Nacht. Sein Platz war allerdings nicht im Haus des Ritters, sondern in jenem, dass sich Familie Sackfold mit Alphak Hasweiler und Jalosch Pilzanger teilten.
„Kommst du?“
Danja lächelte Roban einladend an. Mittlerweile herrschte Stille im Haus, abgesehen von dem allnächtlichen Schnarchkonzert aus verschiedenen Ecken, in das der Geweihte mit regelrechter Inbrunst eingestimmt hatte.
„Hmm, komme gleich!“ versprach Roban, und die Maga verschwand in ihrer Schlafnische, streifte die Robe über den Kopf und huschte nackt unter die Decke.
Sie hörte den Ritter noch einige Momente lang rumoren, dann konnte sie seine Gestalt im Halbdunkel ausmachen. Sie setzte ihre verführerischtes Lächeln auf, auch wenn Roban das mangels Licht wohl nicht sehen konnte.
Etwas landete neben ihrem Lager auf dem Boden, Sekunden später polterten zwei Stiefel hinterher, und noch ehe sie irgendwie reagieren konnte, lag Roban bereits neben ihrem Bett, eine zusammengerollte Decke als Kissen, die zweite über sich gebreitet.
„Gute Nacht, Danja!“ murmelte er und stimmte nur Sekunden später seinen eigenen Beitrag zur geschnarchten Nachtmusik an.
Danja blickte auf die schlafende Gestalt auf dem Boden.
„Gute Nacht, Roban“, erwiderte sie schließlich enttäuscht.
Frustriert blickte sie an die Decke und dachte nach.
Sicher, sie hatte vereinbart, die Vertraulichkeit zwischen sich selbst und Roban im Beisein Dritter auf ein Minimum zu reduzieren, doch hier und jetzt hätte es keinerlei Zeugen für ihr Stelldichein gegeben, so wie einst – und da hatte Roban nichts anbrennen lassen!
Aber er war halt ein Trampel, bei dem ein Wink mit dem Zaunpfahl wenig bewirkte. Da brauchte es schon eher einen kräftigen Hieb mit der Keule!
Und noch eine zweite Erklärung für Robans Verhalten fiel ihr ein.
Er sprach immer von seinem „Fehltritt“, und sie konnte nicht ausschließen, dass er die einstigen Stunden trauter Zweisamkeit wirklich so sah, dass er für sie nicht mehr empfand als für einen Rondred Brotbäck oder Thurescha. Vielleicht war sie nur ein „guter Kumpel“. Ein hübscher Kumpel, aber eben nur ein Kumpel, mit dem man durch Dick und Dünn ging, aber eben nicht ins Bett!
Und trotz all der Dinge, die sie an Roban störten, dieser Gedanke gefiel ihr nicht.
Es dauerte lang, bis sie endlich in den Schlaf fand.
Und das lag nicht nur an dem Schnarchen.