Ein Stücklein Brot nur

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Ausgabe Nummer 67 - Rahja 1043 BF

Ein Stücklein Brot nur

Bewegendes Ende des Tralliker Sängerstreits


TRALLIK, Rahja 1043 BF. Lange schon war der Sängerstreit zu Trallik nicht mehr so festlich gewesen – und nicht so bewegend. Denn an diesem Tag zu Beginn des Rosenmondes berührte Mutter Travia die Herzen aller.

Ein schmuckes Örtchen, aber verschlafen, zumindest den Großteil des Jahres – so hat schon mancher Reisende die kleine Stadt beschrieben, in der sich immerhin der Sitz der Barone zu Garnelhaun befindet. Doch am zweiten Tag des Rahjamondes sieht dies anders aus, denn zu dieser Zeit, wenn die Rosen blühen und die Harschenheide in bunter Pracht steht, zieht es Sänger und an-deres frohes und götterfürchti-ges Volk nach Trallik, um dem dortigen Bardenwettstreit beizuwohnen. Wie in den meisten Jahren reichte der Platz in dem geräumigen Tempel nicht aus, man musste die Fenster und Türen öffnen, damit der Schall der Lieder auch draußen zu hören war.

Nicht nur Einheimische wa-ren zugegen, sondern auch Pilger, Freunde der Sangeskunst und junges Volk auf Brautschau, denn um den Sängerstreit in Trallik ranken sich zahlreiche Legenden – so etwa, dass man bald heiraten werde, wenn man nach einem Schluck aus dem Heiligem Krug aufstoßen müsse.

Einiges Aufsehen erregte die Ankunft eines edlen und über die Maßen glücklichen Paares, dessen Schicksal mit dem Sängerstreit verknüpft ist: In festlichem Garnelblau, mit wehendem Banner, kam der Baron von Oberangar über die Heide geritten, und ihm zur Seite seine junge Gemahlin Nadyana von Garnelhaun. An einem Tag wie diesem war es geschehen, dass die Baronin ihren späteren Gatten zum ersten Mal gesehen und vor allem gehört hatte. Und so war der Ritt nach Trallik nicht nur ein Besuch bei der lieben Verwandtschaft, sondern auch ei-ne schöne und traviagefällige Erinnerung für das Paar.

Darum ließ es der Herr Wolfhardt sich nicht nehmen, selbst zur Harfe zu greifen und ein Lied zum Besten zu geben – freilich nur als Auftakt der Feier und nicht als Beitrag zum Wettstreit. An diesem nahmen heuer ungewöhnlich viele Sängerinnen und Sänger verschiedenster Herkunft teil. Zuerst sang die Bardin Lorinde Blondhaar aus dem fernen Weiden ein Loblied auf die Koscher Gastfreundschaft:

„Fast wie zu Hause find ich’s hier,

Im schönen Koscherland.

Doch noch viel besser schmeckt das Bier,

Das ist ja allerhand!“

Ein Chor aus sieben Tralliker Kindern trug mit hellen Stimmen eine Vertonung des „Travia unser“ vor, wobei die Kleinen es nicht allzu genau mit dem Takt nahmen. Freundlicher Beifall war ihnen dennoch sicher. Stirnrunzeln dagegen erntete ein Bänkelsänger, der sich „der Grüne Geppo“ nannte und von-wer-weiß-wo stammte: Keck stand er da in seinem grünen Wams und trug die Ballade von der Schönen Alwide vor, die Mutter Travia so sehr verehrte, dass sie im Ganzen fünfmal verheiratet war – und einen Mann nach dem anderen an die Firunskälte, die Zorganpocken, die Orken, ein Pilzragout und einen herabstürzenden Balken verlor. Es fehlte nicht viel, dass die Geweihten dem zweifelhaften Lied ein Ende setzten. Umso lieber lauschte man dem rauen Bass des Krambolds Joppe Amselflug, der die lebensspendende Wärme eines Lagerfeuers in der Kälte der Nacht besang. Doch keiner der Genannten schien Mutter Travia so sehr zu gefallen, dass sie Ihren Heiligen Krug von köstlichem Bier überströmen ließ.

Nach dem Auftritt des Krambolds entstand eine kurze Pause, weil sich anscheinend ein Fehler in der Liste der teilnehmenden Sänger eingeschlichen hatte. Während dieser Unterbrechung vernahm man plötzlich im Tempel eine dünne, helle Stimme, die von draußen über die Köpfe der Menge hereindrang:

„Ihr lieben Leute,

Habt doch Erbarmen,

Ein Stücklein Brot nur,

Gebet mir Armen!


Ein Stücklein Brot nur,

Und sei’s bloß ein Kanten,

Mir sei es ein Festmahl,

Will es euch danken.“

Während die ersten holprigen Verse über dem allgemeinen Gemurmel kaum zu vernehmen waren, hörte man die weiteren umso deutlicher, denn auf einmal war es mäuschenstill geworden, obgleich doch so zahlreiches Volk versammelt war.

Da hob die Hochgeweihte, Mutter Traves, gebietend die Hand, und die Menge teilte sich vor ihr. Und siehe, draußen auf dem Platze, stand ein kleines Mädchen, struppig wie eine streunende Katze und dürrer als ein Stück Reisig, und es trug ein fadenscheiniges Hemdchen am Leibe und sonst gar nichts außer Schrammen und blaue Flecken. Als es bemerkte, dass alle Welt zu ihm hersah, verstummte es jäh und sah sich erschrocken um. Doch da ertönte aus dem Tempel auf einmal der Ruf: »Seht nur, es fließt!« Und tatsächlich, dem Heiligen Kruge entströmte auf wundersame Weise das Bier, doch war es kein starkes Gebräu wie sonst, sondern ein milder, malziger Trunk, wie man ihn Kindern am Abend wohl reichen mag.

Da ergriff alle, die anwesend waren, eine tiefe Rührung, und „die Güte Travias erwärmte die Herzen und Sinne“, ganz so wie es geschrieben steht im Buche Vieska im siebten Kapitel. Manch einer griff sogleich in seine Tasche und förderte seinen Mundvorrat oder eine Münzen zutage, und im Nu sah sich das Bettelkind reicher beschenkt als je zuvor in seinem Leben. Die Hochgeweihte aber trat heran und lud das schüchterne Ding ein in den Tempel, und wie man später hörte, wurde das Mädchen, das auf den Namen Lane hört, aufgenommen im Hause der Gütigen Herrin. Sie soll, sofern es ihr und der Mutter Travia Wille ist, dereinst dort die Weihe empfangen.

Karolus Linneger