Freiheit oder Tod
Freiheit oder Tod
Das Praioshangeln über die Schwertschlucht
SCHWERTSCHLUCHT, Praios 1047 BF. Auf spektakuläre Weise gelang es einem Schwerverbrecher, die Freiheit zu erlangen: Moribert Siebenschröter gelang es, beim so genannten „Praioshangeln“ an einem Seil die Schwertschlucht zu überqueren. Nach altem Brauch winkt demjenigen, der dies vollbringt, die Freiheit.
Bekanntlich ist die Schwertschlucht ein wichtiges Heiligtum der Rondra, und auch für Lehenseide wird sie gern genutzt. Doch alle zwölf Götterläufe findet hier am 2. Praios ein Spektakel – oder eher: ein Ritual – statt, das über Leben und Tod, über Freiheit und Gefangenschaft entscheidet. Die Rede ist vom Praioshangeln.
Zu diesem Zwecke wird quer über den Abgrund ein starkes Seil gespannt; schon diese Vorbereitung ist ein kleines Abenteuer für sich. Aber wenn dann im Morgengrauen des zweiten Tages im neuen Jahr unter strengster Aufsicht und Trommelwirbel die auserwählten Verbrecher an den Abgrund geführt werden, kann man selbst als unbeteiligter Zuschauer eine Gänsehaut bekommen. Wie muss es dann erst sein, wenn einem dieser „Gang“, dieses Hangeln über den gähnenden Abgrund bevorsteht?
Denn eines ist klar: Wem irgendwo auf halbem Wege – oder sei es nur wenige Spann vor dem rettenden Ziel – die Kräfte versagen, der darf nicht mehr auf Hilfe hoffen; sobald die schmerzenden Finger sich vom Seile lösen, stürzt der Betreffende mit einem markerschütternden Schrei hinab in die Tiefe und in den sicheren Tod.
So erging es tatsächlich den ersten beiden Verurteilten, bekannten Strauchdieben und Räubern, die eine lange Strafe in der Heisenbinge abzubüßen hatten. Der dritte machte nach einem Viertel des Weges kehrt, da er merkte, dass es ihm nicht gelingen werde.
Dann aber kam der vierte, und es war beileibe kein Unbekannter: Moribert Siebenschröter war es, der Bruder von Melcher Siebenschröter, der vor zwölf Jahren auf dem gleichen Wege die Freiheit erlangte. Moribert war 1044 BF zu zwölf Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden, nachdem der ehemalige Söldner als Räuberhauptmann den Dunkelwald unsicher gemacht hatte. Söldner des Großen Basteybundes hatten jedoch ihn und seine Bande dingfest gemacht.
Grimmig und gefährlich sah er aus, mit seinem Glatzkopf und den zahlreichen Narben, doch hatte ihn die Arbeit im Steinbruch keineswegs gebrochen, sondern seine Muskeln gestählt. Beherzt griff er nach dem Seil und machte sich auf den gefährlichen Weg. Zweimal rutschte er ab und pendelte, nur noch an einem Arme hängend, über der Tiefe. Doch er ließ sich nicht von der Angst übermannen, sondern brüllte wie ein verletzter Stier, dass einem angst und bange werden konnte, und zwang sich mit eisernem Willen dazu, weiterzumachen.
Als er die Füße auf den sicheren Boden setzte, schrie er aus Leibeskräften: „Frei, ich bin frei!“ – ohne daran zu denken, dass nicht die Kraft seiner Arme oder das Urteil eines Gerichts dies bewirkt, sondern einzig und allein die Gnade des Fürsten.
In deren Genuss kam nur noch eine weitere Gefangene, nämlich die Händlerin Alrike Arivorer. Diese hatte falsche Arzneien verkauft, wodurch mehrere Menschen zu Schaden gekommen waren oder gar den Tod gefunden hatten. Anders als Siebenschröter trat sie in Bescheidenheit und Demut ihre Prüfung an und betete zum gestrengen Herrn Praios und der milden Frau Tsa um Beistand – und ihre Gebete wurden erhört.
Sie und Siebenschröter bekamen ein gesiegeltes Schreiben überreicht, das ihre Begnadigung bezeugte. Die sterblichen Überreste der Unglücklichen aber, die am Grunde der Schwertschlucht ihr Leben gelassen hatten, bargen indessen die Diener des Raben und bestatteten sie auf einem nahen Anger. Zumindest dieser Trost wird ihren Seelen zuteil, und so mögen auch sie, die mit dem Leben gebüßt haben, vor Rhetons Waage ein mildes Urteil finden.