Tannengrün-Klage

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Ausgabe Nummer 15 - Phex 1019 BF

Tannengrün-Klage

1. Von Schatten und Tannengrün sanft umgeben,

Im weißen Schleierkleid glänzender Weben,

Aus längst vergess‘ner Vergangenheit,

Der Ewigkeit nahe, so ferne der Zeit,

So seltsam scheinend und auch voller Schrecken,

Schlafend, ruhend, wag ich kaum, sie zu wecken...


2. Durchs Tannengrün, den Schatten durchschritten,

Die weißen Weben, die Schleier, durchschnitten.

Erwache aus Deiner Vergangenheit,

Tritt zu mir in eine Welt voller Leid.

Was läßt mich noch zögern, läßt mich noch wanken?

Es taugt nur ein Werkzeug, nur die Gedanken!


3. Auf, auf! Wache auf! Es reicht nur ein Wort!

Breche herein, Nachtlicht, an jenen Ort!

So heimlich schlummert‘s in meinen Gedanken,

Mit magisch Gespinsten gehalten in Schranken.

Doch ach, wie leicht kommt‘s mir aus den Sinnen,

Will mit allen Künsten Dein‘ Lieben gewinnen!


4. Und jetzt, das Wort ist erschollen, verklungen,

Gleich Elfenweisen, von süßer Stimme gesungen,

Gleich Leuengebrülle, erbebend die Sinne,

Komm, holdes Wesen, Dein Tanzen beginne,

Dreh Dich in singend verwirrendem Reigen,

Erscheine endlich, Du sollst Dich mir zeigen!


5. Seht her, wie Mondlicht silbern bescheinet,

Wie sich Nebel und Lichtstrahl mystisch vereinet,

Wie plötzlich von ungesehener Hand,

Aus Wort und Gedanken sich knüpfet ein Band,

Erhebe Dich aus dem Schweigen der Zeiten,

Den Weg in die Welt will ich Dir bereiten!


6. Von edler Gestalt, das Antlitz so hold,

Augen aus Bernstein, das Haar wie aus Gold,

Die Glieder so sanft, so zart und so weiß,

Durchfährt es mich kalt und doch siedend heiß.

Geliebte Fee, holde Nymphe des Hains,

Du wartest auf Herzen, so nehme nur Meins!


7. Dein Blick, er bohrt sich in meine Sinne,

Drei Worte von Deinen Lippen nur rinne,

So rot und süß und doch noch verschlossen,

Komm näher, will süßen Rauschs Dich liebkosen,

Meiner leidenden Seele die Heilung bringen,

Auf daß das Herz in mei‘m Busen will singen.


8. Doch was? So eisig, fliehst meine glühenden Worte?

Duckst Dich in Schatten, in jenen Orte?

Fürchte Dich nicht, Liebe, du holde Fee!

Komm näher, daß ich meine Liebe gesteh‘!

Mein Herz, ein Kleinod, geb Dir‘s in die Hand,

Ist‘s Dein doch schon längst, hast mich verbrannt!


9. Wie gleichst Du der Göttin, geliebtes Wesen!

In Deinen Armen will mein Herz mir genesen.

Wie hüllt mich Dein Duft von Rosen ein,

Ist‘s wahrhaft‘ges Glück oder trügender Schein?

Nimmer soll diese Stunde vergehen,

Nicht wie ein Laubblatt im Zeitwind verwehen!


10. Und doch, weh mir, wir müssen scheiden,

Die Sonne erhebt sich, beginnt unser Leiden.

Nur Mondlicht, nur Sterne, dürfen sie sehen,

Der Tagstern läßt ihren Körper vergehen.

Goldene Krone des Himmels, sie brennt,

Der Sonnengott - Mitleid für uns er nicht kennt.


11. Scheiden, so scheiden wir, in früher Stunde,

Auf meiner Wange drückt mit dem Munde,

Dem roten, so vielgeliebten, sie mir ein Mal,

Siedend, brennend - doch ach wie schal,

erscheint mir nunmehr jeden Weibs Kuß,

Bei ihr nur find ich der Lieben Genuß.


12. Das Tannengrün war‘s, wo die Frucht ich genossen,

In bitteren Tränen mein Herzblut vergossen,

Taglicht, mein Feind, hast alles zerstört,

Mein Lieben, mein Werben, blieb unerhört.

Noch immer lockt mich das Tannengrün,

Dem Banne der Nymphe kann ich nicht entfliehn...


Wolfhardt von der Wiesen