Eine Linde schlägt Wurzeln - Den Blick gen Rahja

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1033 BF
Den Blick gen Rahja
Den Blick verstellt


Kapitel 5

Autor: Lindholz


Bergund in der Baronie Bragahn zu Winterbeginn 1033 nach Bosparans Fall

"Schön, dass Du kommen konntest."
Die Arme seiner Schwester Saria umfingen ihn und Etilian konnte die Wärme ihres Willkommens durch den dichten Pelz, den der Regen mit schimmernden Perlen gespickt hatte, spüren. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus, als die Anstrengungen der Reise von ihm abfielen wie schmelzender Schnee.
"Du muss Hunger haben, komm, lass uns drinnen sprechen bei einem guten Bier und würzigem Wacholderbraten, den Linnert für uns bereitet hat!"
Die Finger von Sarias noch unbehandschuhter Hand fühlten sich kalt an, während sie ihn hinüber zu dem vierstöckigen Donjon geleitete. Ein unterdrücktes Schnaufen, entfuhr der Bewaffneten, die Etilian in Empfang genommen hatte, als sie hinter den Geschwistern den schwere Holzbalken wieder in seine Halterung am Tor hiefte. Der Heiler musste ob dieser Geste schmunzeln, denn die umfriedende Mauer war noch nicht mit neuem Mauerwerk ausgebessert, dort, wo Satinavs Griff sie zum Einsturz gebracht hatte. Hätte niemand auf das Bimmeln der Messingglocke reagiert, die unter einem hölzernen Dächlein über dem Tore hing, wäre er einfach der steinernen Umfriedung gefolgt und durch eine der Lücken eingestiegen.
Der kalte Nieselregen war einfach zu unangenehm, um freiwillig lange darin auszuharren. Noch hatte sich zwar kein Schnee zwischen die fein rieselnden Tropfen gemischt, doch konnte es nicht mehr lange dauern: Ein erster Hauch von Firuns Atem überzog bereits die morgendlichen Äcker und jeden Tag war zu erwarten, dass der Herr des Winters sein weißes Reich auch auf den südlichen Kosch ausdehnte. Etilians schwarzer Warunker war ebenfalls dankbar, dem unangenehmen Wetter zu entkommen und ließ sich von der Soldatin ohne Widerstand in den aus hellem Holz errichteten Stall führen.
Der Bruder der Burgherrin selbst trat derweil neben seiner Schwester durch das schwere Portal in den Wohnturm ein. Zur Linken führten graue steinerne Treppenstufen in den ersten Stock. Bevor sie diesen Weg einschlugen, trat die Ritterin jedoch an eine Türe aus nachgedunkeltem Ahornholz heran, öffnete diese, um den Kopf hindurchzustecken und den Koch wissen zu lassen, dass er das Mahl jetzt auftragen könne.
Kurze Zeit später saßen Bruder und Schwester, der Winterkleidung entledigt, an dem schweren Esstisch im ersten Stock. Sie hatten sich über Eck gesetzt und genossen das gemeinsame Mahl, während das Feuer im Kamin Wärme und flackerndes Licht in den Raum entsandte. Linnert verstand sein Handwerk, wie Etilian schon nach einem Bissen klar wurde, und auch der schwere, mit Nelke und Zimt versetzte Rotwein mundete ihm hervorragend.
"Von den hiesigen Rebstöcken?" fragte der Heiler neugierig und seine Schwester nickte.
"Zehn Lenze alt. Allerdings muss man schon ein gutes Jahr erwischen, um hier einen guten Roten zu keltern. Weißer Bergunder ist viel weiter verbreitet und hat eine angenehme Säure und Finesse, aber natürlich sorgt der Kalk im Boden auch beim Rotwein für ein gutes Alterungspotential... Warum grinst Du so?"
"Entschuldige," Etilian versuchte, die Mundwinkel wieder nach unten zu zwingen, was aber nicht gelingen wollte. "Ich hätte nur nie gedacht, Dich eines Tages so über Wein reden zu hören."
"Nun, er bildet den Reichtum dieses Tales. Es wäre doch sehr dumm von mir, wenn ich seine Stärken nicht kennen würde. Und gerade an heißen Sommerabenden hat ein erfrischender Weißer zweifellos seine Vorzüge. Nach einem anstrengenden Tag bin ich dennoch froh, dass es mir hier im Kosch niemand übel nimmt, wenn es mich nach einem guten Bier dürstet", erwiderte Saria mit einem schelmischen Lächeln.
Obwohl sich die Zwillinge Zeit mit dem herrlichen Mahl ließen, hielt es lange nicht so lange an, wie ihr Gespräch. Sie waren von Kindesbeinen an gemeinsam aufgewachsen und selten für längere Zeit getrennt gewesen. Es erschien ihnen, als hätten sie sich eine Ewigkeit nicht gesehen und tausende Dinge wollten erzählt sein.
"Der Graf mag vielleicht nicht der geborene Kämpfer sein, doch er ist auch nicht häufiger krank, als es bei anderen vorkommt. Die Gerüchte sind völlig übertrieben. Bisher hatte ich am gesamten Grafenhofe keinen einzigen Krankheitsfall, der nicht mit einigen Kräutern und ein wenig Ruhe zu behandeln gewesen wäre. Alleine Marissa, eine der Mägde, hat ihr Kind verloren, doch die Seele der Kleinen war bereits über das Nirgendmeer entschwunden, bevor es den Mutterleib verlassen hatte."
Einen Augenblick lang schwie Etilian und gedachte des schmerzvollen Augenblickes. Dann sprach er weiter: "Genug zu tun, gibt es dennoch fast immer und ich konnte schon viel aus den Werken lernen, die ich am Hofe vorgefunden oder erworben habe. Gerade was Gifte angeht, fehlt es mir jedoch noch an heilkräftigen Gegenmitteln. Ich hoffe, dass auf dem großen Markt in Frühjahr einige Händler aus dem Süden auftauchen und Kräuter mit sich führen oder ich zumindest bestellen kann, was ich benötige."
Saria nickte.
"Es muss furchtbar sein, wenn man ständig mit einem Attentat rechnen und um das eigene Leben fürchten muss, aber so ist das wohl, wenn man in so einer bedeutenden Stellung ist wie seine Hochwohlgeboren."
Seufzend stimmte der Hofmedicus ihr zu.
"So ist es wohl. Und wo wir über Unbill reden: Die Karten künden von Gefahr, was den Brückenbau gen Moorbrück angeht."
"Ein Unfall?" fragte Saria beunruhigt, doch ihr Bruder schüttelte den Kopf.
"Wie es scheint, gibt es jemandem, der dem Bau nicht wohlgesonnen ist", erklärte Etilian und seine Schwester stieß einen leisen Fluch aus.
"Du solltest weitere Bewaffnete anwerben. Dem Baron würde es sicher auch gefallen, die Warnamündung gut geschützt zu wissen", riet er Saria, die daraufhin missmutig zu ihm hinübersah.
"Und woher soll ich das Geld nehmen, Brüderchen?"
"Du hast doch das Geld unserer Verwandten...", begann er, wurde aber schon unterbrochen, bevor er den Gedanken zu Ende führen konnte.
"Bewaffnete kosten stetig Gold. So etwas kann ich nicht auf Pump bezahlen. Ich muss sicherstellen, dass das Gut genug abwirft. So langsam komme ich dazu, mir einen Überblick über die Einnahmen und Ausgaben zu machen. Die erste Zeit war das kaum möglich; gerade war ich hier angekommen, begann schon die Ernte, dann die Weinlese und anschließend müssten die Karpfenteiche drüben am Wald für den großen Herbstfang geleert werden. Da wurde jedes Paar Hände benötigt. Zum Frühling hin werde ich mich nach jemandem umsehen, so die Finanzen es erlauben", berichtete die Ritterin und ergänzte: "Ich denke auch darüber nach, mir eine Knappen zu nehmen. Wie Du weißt, wäre es das erste Mal für mich. Den stetigen Kampf in den schwarzen Landen, wollte ich keinem halben Kind zumuten, doch ich glaube, jetzt wäre der rechte Ort und die rechte Zeit, mich dieser ritterlichen Herausforderung endlich zu stellen."
"Du solltest auch darüber nachdenken, eine weitere unbesetzte Position in Deinem Haushalt zu füllen, Schwesterherz", warf Etilian ein.
Als die Ritterin ihn verwirrt anblickte fuhr er fort: "Einen Mann, der mit Travias Segen an Deiner Seite steht. Ein Rittergut wie dieses braucht schließlich einen würdigen Erben."
Saria errötete.
"Das ist nicht so einfach... es ist auch so viel zu tun..."
"Soll ich vielleicht nach jemandem Ausschau halten? Am Hofe des Grafen sieht man häufig Ritter und andere Männer von Stand", fragte der Heiler schmunzelnd.
"Ich komme schon alleine zurecht, vielen Dank. Wieso gehst Du nicht mit gutem Beispiel voran und suchst Dir selbst ein treues Weib? Auch so wäre das Erbe unserer Familie gesichert!" entgegnete seine Zwillingsschwester mit einem Funkeln in den Augen, welches deutlich verkündete, dass er sie nicht zu sehr foppen sollte. Ihr Bruder hob abwehrend die Hände.
"Wie Du weißt, bin ich der jüngere von uns beiden..."
"Um nicht einmal einen halben Stundenlauf!" protestierte Saria, wusste jedoch, dass eben jene Minuten wirklich den entscheidenden Unterschied ausmachten. Es war wirklich und wahrhaftig ihre Aufgabe und das ließ sich nicht leugnen! Mit einer seltsamen Last im Herzen stand sie auf und ging zum Fenster hinüber.
"Um ehrlich zu sein, würde ich mir wünschen, dass meine Ehe nicht nur schicklich und angemessen ist, sondern auch Rahjas Leidenschaft nicht entbehrt", erklärte sie, als sie dort angekommen war und fragte: "Ist das zu viel verlangt? Was meinst Du?"
Etilian trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Gemeinsam sahen sie zu, wie im Osten ein erstes, zarte Rosa den baldigen Aufgang der Sonne ankündete.