Unter dem Schleier - Wie ein Baum

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Baronie Greifenpass, auf der Reichsstraße III in Richtung Angbar, Ingerimm 1042

„Ich bin wie dieser Baum“, hob Marbolieb Tempeltreu an und deutete mit ihrer ausgestreckten rechten Hand auf einen Baum weiter vorne.

„Der Baum da?“, wollte Hal von Boltansroden wissen und zeigte seinerseits auf einen.

Die Novizin schüttelte jedoch ihren Kopf: „Nein, der andere da. Ich bin wie er. Ein Teil von ihm ist tot. Auch ein Teil von mir ist tot.“

Hal von Boltansroden brachte sein Pferd zum Stehen und musterte den Baum ausführlich. Marbolieb tat es ihm gleich.

„Keine einzige Blüte, ja nicht einmal ein einziges Blatt schmückt jenen Ast. Er ist kahl und vertrocknet, hat seine schützende Haut verloren. In diesem Ast gibt es kein Leben mehr und es wird auch nie zurückkehren. Was tot ist wird nie mehr leben. Dieser Ast ist tot. So wie ein Teil von mir.“

Dann schauten sie hinauf. Betrachteten den Baum. Ein sanfter Wind strich über Blüten und Blätter. Ein Windhauch, den sie zwar an ihrem Schleier, aber nicht im Gesicht spüren konnte. Wie sehr sie sich wünschte, wie alle anderen zu sein und auf ihren Schleier verzichten zu können. Doch das würde nie geschehen. Die Götter hatten ihr Leben retten können und einem Wunder gleich, waren die Verbrennungen auf ihrer rechten Körperhälfte verheilt, nicht jedoch auf ihrer linken. Manchmal da fragte sie sich, was die Götter sich dabei gedacht hatten. Ja, was hatten sie sich dabei gedacht?

„Aber der Baum“, hob nun der Geweihte mit ruhiger Stimme an, legte seinen Kopf schräg und betrachtete ihn noch aufmerksamer, „Er lebt. Schau ihn dir an! Auch wenn ein Teil von ihm tot ist, so lebt der andere doch weiter. Grüne Blätter. Duftende Blüten. Er lebt! So wie du.“

Marbolieb wusste darauf nichts zu sagen.

„Räblein“, hob er ernst an, „,Manchmal muss ein Teil von uns sterben, wie bei diesem Baum, weil er nicht gänzlich gesund ist, damit der Rest gesund bleiben kann.“

„Hm“, machte die Novizin da nur skeptisch, „Das klingt ja so, als wäre meine Liebe Krankheit gewesen...“

„Wenn sie nicht erwidert werden kann, dann macht sie uns krank und dann ist es besser, wie bei diesem Baum, wenn dieser Teil in uns vergeht, damit der Rest von uns gesund werden und leben kann.“

Noch immer betrachtete sie den Baum.

„Muss die Frage nicht vielmehr lauten“, nun wandte er sich zu ihr, „Bist du wie der Baum oder ist der Baum wie du?“