Eine Besessenheit auszutreiben - Schatten über Neufarnhain

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21. Pra 1034 BF
Schatten über Neufarnhain


Kapitel 1

Im Namen des Prinzen

Neufarnhain, 21. Praios 1034 BF

Wutschnaubend las Edelbrecht von Borking immer und immer wieder das Antwortschreiben des Vogtes Morwald Gerling zu Moorbrück auf seine persönliche Bitte, die er seinem Rechtfertigungsbericht für das zurückliegende Jahr gesandt hatte. Was bildete sich dieser Bürgerliche nur ein? Nie hatte Edelbrecht stark auf seine adlige Abstammung geachtet und doch gemahnte sie ihn in den letzten Monden immer stärker daran, nun endlich zu handeln. Allmählich wollte ihm wirklich der Geduldsfaden reißen. Wie konnte es Gerling wagen, ihm, dem Adligen, die Erfüllung seines Wunsches vorzuenthalten? Er war in leidenschaftlicher aufrichtiger Zuneigung zu Devota entflammt und Gerling sollte ihm nun nicht länger mehr in die Quere kommen!
Was war also zu tun? Konnte er dem Fettwanst so ohne weiteres die Fehde erklären, mit einigen wenigen Getreuen nach Burg Birkendamm reiten und die Herausgabe der lieblichen Maid fordern? Sicherlich würde das bei diesem Schwächling schon reichen, doch wenn sich Gerling dann immer noch weigerte, bliebe Edelbrecht kein anderes Mittel, als Birkendamm mit Feuer und Schwert zu nehmen und…
Der junge Ritter hielt in seinen Überlegungen inne. Was war nur los mit ihm? Man lebte doch nicht mehr in den kaiserlosen Zeiten. Damals wäre ein Aufstand eines Vasallen gegen den eigenen Lehnsherrn sicherlich nicht weiter beachtet worden, doch heutzutage?! Ein Reichsgericht hätte ihn schneller in Acht gesetzt als er das Wort „Heldentat“ langsam und deutlich ausgesprochen hätte. Außerdem, woher sollte er bitte die Leute für einen solchen Handstreich nehmen? Die Kassen Neufarnhains waren nicht so gut gefüllt, als dass er sich eine eigene Privatarmee hätte leisten können, und sein Vater würde ihm was husten, wenn er ihn in seine Pläne einweihte.
Edelbrecht seufzte. Nur gut, dass Boromil vom Kargen Land, sein treuer Freund, der in diesem Götterlauf 30 Lenze zählen würde, schon bald zu Besuch kommen würde. Der war abgebrühter und stellte Überlegungen mit einem ruhigeren Kopf an, als der um fünf Jahre jüngere Heißsporn, der Edelbrecht nun einmal war. Vielleicht hatte der ja eine Idee, welche Möglichkeiten ihm noch blieben!? Außerdem hatte der Freund gewiss eine Menge zu erzählen, war er doch der Neufarnhainer Tafel im Phex fern geblieben, weil ihn drängende Familienangelegenheiten davon abgehalten hatten. Außerdem wären da zwei Reichskongresse, von denen er würde berichten können, ganz abgesehen vom Angbarer Turnier des letzten Jahres und den Schwierigkeiten mit seinem Wappen und der damit verbundenen Reise in den Hinterkosch.
Was hatte hingegen Edelbrecht in der Zwischenzeit erlebt? Nun gut, das Fest im Phex war nicht ohne gewesen und auch der Traviabund Gerbalds lieferte reichen Stoff für Anekdoten, aber sonst hatte er sich doch eher dem Aufbau seiner bescheidenen Siedlung gewidmet. Er war gespannt, wie weit Boromil bei seiner ganzen Herumgondelei mit Neuvaloor gekommen war. „Ohne meine Zwerge hätte er das nie geschafft“ brummte er vor sich hin und schaute gedankenverloren vor sich hin. Es wäre alles viel einfacher, wenn Devota bei ihm gewesen wäre, dessen war er sich sicher…

23. Praios

„Vor allem musst du Geduld haben, Edelbrecht“, Boromil vom Kargen Land musterte seinen Freund nachdenklich aus seinen blauen Augen „mit deinem Ungestüm wirst du dich sonst um Kopf und Kragen bringen. Sieh mal…“ fuhr er schnell fort, als er bemerkte, dass der Borkinger schon wieder aufbrausen wollte „auch mir gefallen einige Entscheidungen unseres Vogtes nicht, aber das ist kein Grund für Hochverrat. Du wirst viel mehr erreichen, wenn du deinen offensichtlichen Widerstand aufgibst. So wartet Gerling doch nur darauf, dir eines auszuwischen und du lieferst ihm dazu die besten Möglichkeiten.“
Was war nur mit Edelbrecht los? Während es Boromil gelang, den Jüngeren durch gutes Zureden zu beruhigen, machte er sich so seine eigenen Gedanken. Gerade gestern erst war er in Neufarnhain eingetroffen und hatte, kaum dass er von seinem Pferd gestiegen war, nicht nur die Stimmung im Dorf als seltsam empfunden – auch sein Freund Edelbrecht hatte sich merkwürdig verhalten. Die Einheimischen machten den Eindruck, als empfänden sie geradezu Furcht in Edelbrechts Gegenwart und dieser trug, was sonst nicht seine Art gewesen war, ein Schwert an seinem Gürtel. Auch huschten seine Blicke rasch, ja geradezu hektisch hin und her und bewiesen damit deutlich Edelbrechts ununterbrochene Nervosität und Unruhe. Dazu kam noch, dass der Borkinger ständig gereizt war und nahezu jeden Einwand als persönlichen Angriff empfand, so dass er sich von seinen Siedlern nahezu nichts mehr sagen ließ. Allein der Angroschgeweihte Dwarrosch und Edelbrechts Freund Etosch fanden noch Gehör bei dem Herrn von Neufarnhain. Und so beschlich Boromil ein ungutes Gefühl, als er seinem Freund von den Ereignissen der zurückliegenden Monde berichtete und auch Edelbrechts unwirsch vorgetragener Erzählung über die „Neufarnhainer Tafel“ konnte er nicht seine volle Aufmerksamkeit schenken. Irgendetwas war ihm hier ganz und gar nicht geheuer.
Dabei hatte Edelbrecht allen Grund zufrieden zu sein: Die Neufarnhainer hielten ihre Katen sauber und fegten nahezu täglich den Dorfplatz, die Palisade war in einem erstklassigen Zustand und auch die Produktion der ersten Waren, die sich über die Ortsgrenzen hinweg in klingende Münze umwandeln ließen, war mit Gerste, Wildleder, Wolle und Filz angelaufen. Warum also gönnte sich Edelbrecht nicht eine kleine Verschnaufpause und blickte stolz auf das bisher Erreichte zurück? Nachdenklich musterte Boromil sein Gegenüber. Knirschte dieser etwa gerade mit den Zähnen? Tatsächlich machte er einen höchst verbissenen Eindruck…
Als hätte Edelbrecht die unausgesprochenen Fragen seines Freundes vernommen, zuckte er zusammen, riss die Augen weit auf und stieß den Atem schnaufend aus. Unvermittelt fasste er Boromil am Unterarm und blickte ihm lange ins Gesicht. „Entschuldige, mein Freund…ich weiß manchmal selber nicht, was mit mir los ist…und andauernd diese Kopfschmerzen...Ich hoffe nur, dass sich kein Fieber einstellt. Wundern würde es mich jedenfalls nicht, dass man hier krank wird, wenn man fast ununterbrochen ein ganzes Jahr hier im Sumpf zubringt. Du hingegen hast doch bestimmt einiges erlebt, lass mal hören, was das vergangene Jahr für dich bereitgehalten hat.“
Nachdenklich nickte Boromil und während er Edelbrecht die neuesten Ereignisse der Reichspolitik schilderte, musterte er ihn immer wieder aufmerksam. Zeigten sich dort nicht die ersten Zornesfalten bei seinem Freund?

29. Praios

„Es ist mir gleich was du sagst, Etosch“, aufgeregt stürmte Edelbrecht in seinem Zimmer auf und ab, wobei er wirre Muster mit seinen Händen in der Luft zeichnete „ich erteile meine Einwilligung zu diesem Traviabund nie, so lange ich lebe, auf gar keinen Fall!“
Betreten blickten Cordo Sauerbrodt und sein Sohn Jallik zu Boden, während der Hühnerhirt Cordo Kauzfold sich ängstlich in eine Ecke drückte und verlegen seine Filzkappe in den Händen knetete. Kurz zuvor hatten sie eigentlich nur ihren Herrn von der Absicht Jalliks in Kenntnis setzen wollen, Trave, die siebzehnjährige Tochter des Hühnerhirten zu ehelichen. Doch was eine reine Formalität hätte sein sollen, gestaltete sich vor ihren Augen immer mehr zum Untergang des Dererunds. Etosch Gabelbart stampfte deswegen ärgerlich mit dem rechten Fuß auf. „Zum Donner, Euer Wohlgeboren“, seit einiger Zeit befleißigte sich selbst der Ambosszwerg im Umgang mit dem Herrn Neufarnhains dieser offiziellen Anrede, zumindest, wenn Dritte anwesend waren „ist es weil Trave noch keine achtzehn Götterläufe zählt? Wen schert das bei euch kurzlebigen Menschen schon? Der Junge ist in inniger Zuneigung zu ihr entflammt und will sie mit in seinen Stollen nehmen, was ist denn schon dabei? Sicherlich werden sie glücklich werden und wir alle hätten endlich einmal wieder einen Grund zu feiern und die allgemeine Stimmung zu heben, die, mit Verlaub, alles andere als gut ist.“
Zornig starrte Edelbrecht den stämmigen Zwerg an. „Es ist mir dreimal gleich, ob Rahja diesen Bund mit ihrer Gunst segnet, ich will es nicht. Soll er Morena oder Sepha nehmen, die sind erstens älter und zweitens unansehnlicher.“
„Aber gnädiger Herr, verzeiht“, fiel der achtzehnjährige Jallik ein und Tränen traten ihm in die Augen „Trave erwartet bereits ein Kind, das unzweifelhaft meines ist.“ „So, Unzucht hast du mit dieser Metze also auch bereits getrieben und mich damit um mein angestammtes ius prima noctis gebracht?! Das wird ja immer besser. Hinaus, aus meinen Augen, unseliges Pack, ehe ich euch mich dazu entschließe, euch an der nächsten Weide aufzuknüpfen!“ Edelbrecht schrie seine Empörung regelrecht hinaus, worauf die drei Männer schleunigst das Weite suchten. Allein Etosch hielt der neuen Hasstirade seines Freundes stand und wartete bis dieser Luft holte. „Sag mal, was ist denn in dich gefahren, Junge? Du führst dich auf wie ein bornländischer Junker gegenüber seinen Leibeigenen. Recht der ersten Nacht? Hast du sie denn noch alle? Seit der alten Sumpfranze Perval hat das hierzulande niemand mehr eingefordert. Uns allen ist doch damit gedient, wenn die Einwohnerzahl Neufarnhains durch Geburten steigt, wenn schon kein Aas freiwillig seinen Fuß auf diesen sumpfigen Boden setzt. Warum also dieser…“
„Wage es nicht noch einmal mir zu widersprechen, Zwerg“, drohend baute sich Edelbrecht vor Etosch auf, die Hand auf den Knauf seines Schwertes gelegt.
„Sonst was?“ Zum ersten Mal nahm Etoschs Stimme einen ernsten Unterton an. Was er sich in den letzten Tagen von diesem Küken alles gefallen ließ, war unbeschreiblich, doch jetzt reichte es allmählich. „Du scheinst ganz zu vergessen, dass DU mich um Hilfe gebeten hast, Edelbrecht. Ich habe mich dir nicht aufgedrängt. Kein Problem, wenn du hier ein neues Schreckensregiment Galotta errichten möchtest, bitte, aber lass mich dabei aus dem Spiel. Aber wenn ich gehe, das glaube mir, mein Freund, dann nehme ich die Angroschim und alle Menschen, die sich deiner Tyrannei nicht länger aussetzen wollen, mit mir. Dann kannst du alleine hier den Haffax von Neufarnhain spielen.“
Bebend drehte sich Etosch um und ging zur Tür. Hinter ihm fuhr zischend das Schwert seines Freundes aus der Scheide. „Das wagst du nicht“, knurrte Etosch und trat durch die Tür ins Freie. Tatsächlich wurde er vom Borkinger nicht am Verlassen der Kate gehindert. Kurz sah er sich um und trottete dann zur Taverne „Zum Findling“, wo die drei geflohenen Männer in der Gesellschaft der anderen Angroschim bereits auf ihn warteten und fragend zu ihm schauten. „Nichts zu machen“, brummte Etosch „aber lasst die Köpfe nicht hängen. Noch ist der Stollen nicht eingestürzt. Wir versuchen es wieder, sobald der Knabe sich wieder einbekommen hat – er kann ja nicht ewig so weitertoben…“

13. Rondra

Erschrocken fuhr Edelbrecht aus dem Schlaf hoch. Hatte er da nicht gerade etwas gehört? Ein seltsames Scharren und Keuchen… Oder war das blanke Einbildung und nur die Aufregung gewesen, die ihn nun nicht mehr schlafen ließ? Er konnte es nicht verleugnen: Unruhe hatte ihn befallen, seitdem die Nachricht bei ihm eingetroffen war, dass Fürst Blasius vom Eberstamm gedachte, sich höchst selbst von den Fortschritten in den Moorbrücker Neusiedlungen ein Bild zu machen und daher im kommenden Mond von Moorbrück nach Neuvaloor reisen wollte. Zu diesem Zweck hatte er die Begleitung aller Ritter aus den umliegenden Siedlungen erbeten und so würde Edelbrecht schon bald vor seinem Fürsten stehen. Blieb nur zu hoffen, dass Morwald Gerling nicht die Impertinenz besäße, ihn bei Blasius in Misskredit bringen zu wollen. Edelbrechts Wangen brannten wie Feuer. Sein Mund fühlte sich trocken an und auch das Schlucken bereitete ihm Beschwerden. Der junge Mann blickte verstört zum Fenster hinaus, doch fand er das Madamal am Himmel nicht, das in den vergangenen Nächten immer schwächer geworden war – tote Mada. Edelbrecht fasste sich an die Stirn – zum Henker, sie glühte als befände er sich daheim im Dampfbad der Borkenhalle. Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Verstört blickte er sich im dunklen Zimmer um. Hier irgendwo musste doch das Glöckchen liegen, mit dem er Leubold zu rufen pflegte. Tastend suchten seine Hände die Umgebung ab, doch als er sich weiter aufrichtete, ließ ihn ein heftig auftretendes Schwindelgefühl stöhnend auf sein Nachtlager zurücksinken.
‚Edelbrecht!‘ Was war das? Hatte ihn jemand gerufen? Verwirrt spähte Edelbrecht in die Dunkelheit. ‚Edelbrecht!‘ Nein, das konnte nicht sein. Er war doch ganz alleine im Zimmer. ‚Edelbrecht!‘ Da war es wieder. Kraftvoll wollte er ausrufen, doch seinem Rachen entwich nur ein gequältes Krächzen: „Wer ist da?“
‚Edelbrecht!‘
„Los, zeigt euch!“
‚Edelbrecht!‘ Der junge Mann hielt inne. Er zitterte am ganzen Leib. War es nicht die Stimme seiner Mutter gewesen, die ihn da leicht mahnend rief? Das konnte nicht sein. Er musste träumen. Immerhin war seine Mutter fast auf den Tag genau vor dreizehn Götterläufen zu Boron gegangen. Die Schauergeschichten seiner Amme fielen ihm wieder ein. Hatte sie es nicht für möglich gehalten, dass die Toten manchmal zurückkämen und wusste nicht auch Gerbald aus seiner Zeit in Tobrien die grausamsten Anekdoten über Wiedergänger und wandelnde Skelette zu berichten? Hätte er doch nur sein Schwert bei sich oder zumindest ein tröstendes Licht. Da war es ihm, als lege sich eine kalte Hand auf seine Stirn. Doch er konnte niemanden erkennen. ‚Es ist alles gut, mein Junge. Ich bin bei dir. ‘ Da war sie wieder – die Stimme. „W…wer…wer bist du?“ stammelte Edelbrecht, der sich auf einmal ganz klein, schwach und wehrlos vorkam. ‚Du kennst mich. Ich bin schon eine ganze Weile bei dir. ‘ wisperte die Stimme.
„Mutter, bist du’s?“ Edelbrecht traute seinen Augen nicht, als in Folge seiner Frage, kaum dass seine letzten Worte verklungen waren, der Raum in ein dumpfes blaues Licht getaucht wurde. Zu Beginn noch blass, wurde der Strahl immer heller und dort, wo das Leuchten am kräftigsten war, stand eine Frau, die seine Mutter zu sein schien. Doch nicht die von ihrem schweren Siechtum gezeichnete und spürbar gealterte Frau, als die Edelbrecht sie zuletzt gesehen hatte, sondern ein jugendliches, geradezu umwerfend schönes Fräulein stand dort und glitt katzenartig auf ihn zu. ‚Ja, mein Junge, ich bin es. Hast du mich vermisst? ‘ Tränen rannen dem jungen Mann übers Gesicht. Auf einmal fühlte er sich wieder ganz klein, war er wieder der 12jährige Knabe, als den seine über alles geliebte Mama ihn zurückgelassen hatte. „Wie ist das möglich?“ stammelte er. ‚Wundere dich nicht, Edelbrecht…‘ Die Frau stand nun unmittelbar vor ihm. ‚Jetzt wird alles wieder gut werden. Alle deine Probleme werden sich lösen lassen, du musst mir nur vertrauen…‘ Schweigend blickte Edelbrecht zu der wunderschönen Frau empor. Etwas in ihm kämpfte gegen die aufsteigende, nahezu irrationale Freude an. Es war nicht möglich – das alles konnte unmöglich borongefällig sein. Je länger er darüber nachdachte, desto verwirrender, ja unheimlicher wurde das alles hier.
‚Ruhig, mein Junge. Du wirst verstehen, lass mich dir erklären…‘ Die Frau beugte sich über Edelbrechts Gesicht und küsste ihn. Doch nicht wie eine Mutter, sondern wie eine jugendliche Geliebte, wild, ungestüm und doch dabei spielerisch und zärtlich. Doch ihre Lippen waren kalt und ihre Zunge, die sich ihren Weg in Edelbrechts Mund bahnte fühlte sich matschig und faulig an. Grauen durchfuhr Edelbrecht, doch er machte keine Anstalten sich zu wehren, bis ihn selige Dunkelheit umhüllte…

01. Efferd

Seitdem das Madamal erneut abnahm, hatte Edelbrecht immer häufiger an die Nacht der letzten toten Mada gedacht, in der er diesen seltsamen und unbeschreiblich grauenhaften Albtraum gehabt hatte. Mit dröhnendem Schädel war er am darauf folgenden Morgen auf dem Boden erwacht, ohne sich zunächst an etwas Genaues erinnern zu können, auch wenn er meinte immer noch etwas Fauliges auf seinen Lippen schmecken zu können. Seine unerklärlichen Wutausbrüche und seine Geistesabwesenheit aber hatten seit jener Nacht nachgelassen und mit jedem Tag, der weiter verstrichen war, schien er die Dinge um sich herum klarer und heller zu sehen: Mit Zorn und Gewalt würde er seine Ziele nicht umsetzen können – das wusste er nun. Vielmehr würde er nur das Gegenteil erreichen. Nein, er musste geschickter vorgehen, wenn er aus diesem elenden Sumpfloch jemals wieder lebend herauskommen wollte. Immer stärker machte sich in ihm die Gewissheit breit, dass er zu Höherem berufen war, sie alle würden schon sehen, dass sie ihn jahrelang unterschätzt hatten…
Und ja, vielleicht bot sich ihm schon in diesem Mond die Möglichkeit seine Zukunft zu gestalten, denn immerhin würde er in Kürze mit seinem gütigen Landesvater Fürst Blasius vom Eberstamm zusammentreffen, um ihn auf seiner Reise durch die Moorbrücker Neusiedlungen zu begleiten. Und so hatte Edelbrecht auch nicht länger mehr gezögert und dem jungen Liebespaar seinen Segen zum Traviabund erteilt, bevor sie noch auf blöde Gedanken kommen sollten und heimlich des Nachts die Flucht antraten. Sobald er von seiner Reise zurückgekehrt sein würde, könnten die beiden im Namen aller Zwölfe ihr gemeinsames Leben beginnen. Aus diesem Anlass hatten sich die Familien Kauzfold und Sauerbrodt dazu entschlossen an die Kate der Sauerbrodts einen ersten Anbau zu setzen.
Edelbrecht schmunzelte. Ja, er würde von nun an ein gerechter, aber auch ein strenger Lehensmann seines Herrn sein, ganz wie es seine Mutter ihn gelehrt hatte. Wenn sie alle nur mit anpackten und ihm ohne Widerrede gehorchten, würde Neufarnhain schon bald Moorbrücks Glanz, der ohnehin nicht allzu groß war, überstrahlen und Blasius käme gar nicht umhin ihn, dem jungen aufstrebenden Adligen aus gutem Hause den Baronsreif übertragen statt ihn weiter in den Händen dieses einfältigen dicklichen Wurms zu lassen, auch wenn das bedeuten sollte, eine Entscheidung des Grafen von Ferdok zu durchkreuzen. Aber der Angroscho würde sich sowieso nicht mehr allzu lange auf dem Thron halten können…
Ein Lächeln umspielte die Lippen des Mittzwanzigers, als er sich noch einmal sein Wams zurechtrückte. Nur jetzt einen guten Eindruck hinterlassen bei Blasius, dann würde sich alles finden…

14. Travia

Edelbrecht kicherte in sich hinein. Seine Mutter hatte es ihm ja prophezeit, dass Fürst Blasius für ihn keinen Ausweg kennen würde – hätte er doch nur gleich auf sie gehört, dann hätte er sich diesen ganzen Mummenschanz, die ganze Verstellung sparen können und hätte eine Krankheit vortäuschend überhaupt nicht zu reisen brauchen. Tatsächlich nämlich hatte sich während der Reise des Fürsten keine Gelegenheit geboten mit dem mächtigsten Mann des Koschs ein paar ungestörte Worte zu wechseln, die dessen Aufmerksamkeit auf ihn hätten lenken können und so blieb schließlich alles beim Alten…
Wie dem auch sei: Zweimal war ihm seine Mutter in den Nächten der toten Mada noch erschienen und seit dem vergangenen Mal vor fünf Tagen begleitete sie ihn nun täglich, auch wenn seine Untertanen sie offensichtlich nicht sehen konnten oder wollten. Nun, wo er in den Schoß seiner Mutter zurückgekehrt war, brauchte er diese Narren auch nicht mehr. Es war klar, dass er sich nun voll und ganz auf sie allein verlassen konnte. Warum nur hatte ihm sein Vater nie die Wahrheit verraten?
Geduldig hatte Edelbrecht die bescheidene Zeremonie an sich vorbeiziehen lassen, in der der Angroschgeweihte Dwarrosch Sohn des Dwingel, in Ermangelung eines Geweihten der Zwölfgötter Jallik und Trave miteinander vermählt hatte. Rechtzeitig zu diesem Anlass war der kleine Anbau fertig geworden, in dem die Schwangere, deren Bauch nun bereits deutlich gewölbt war, und ihr junger Gatte künftig miteinander zu wohnen gedachten.
Als der Zwerg endlich geendet hatte und Jallik seine Braut in die Arme schloss, räusperte sich Edelbrecht laut und vernehmlich, so dass die Köpfe seiner Untertanen sich zu ihm drehten, gerade in dem Moment, als der Bräutigam seine Braut hatte küssen wollen.
„Verehrte Anwesende, liebes Brautpaar, ihr werdet noch einige Augenblicke warten müssen, ehe ihr die Freuden Rahjas und Travias genießen könnt“, beifälliges Gelächter beantwortete Edelbrechts Worte „doch ist es nun an mir, noch ein paar Worte an euch zu richten.“ Der Herr Neufarnhains warf sich in Positur und blickte auf seine Untergebenen herab mit all der Würde, die die Götter ihm verliehen hatten. „Bedenkt in eurem künftigen Ehestand vor allem, wem ihr Gehorsam und Treue schuldig seid. Nicht euer Mann, nicht eure Frau verdient eure bedingungslose Gefolgschaft, sondern allein MIR sollt ihr folgen, meinen Anweisungen sollt ihr nachkommen und mein Glück und meine Zufriedenheit sei fortan euer einziges Lebensziel.“
Etosch Gabelbart runzelte die Stirn. Kein Laut war auf dem Dorfplatz von den Siedlern zu vernehmen. Nur das Rauschen des Windes und das Knarren der Palisade, die Neufarnhain vor den Widrigkeiten des Sumpfes schützte, mischten sich in die Stille. Was für einen Unsinn gab Edelbrecht da von sich? Waren das etwa Worte, die sich für einen Ehebund gehörten? Doch es kam noch schlimmer, wie der Angroscho sich überzeugen konnte. „Künftig soll all euer Tun darauf gerichtet sein, meine Bedürfnisse zu befriedigen und mein Lächeln sei euch Lohn genug. Ihr alle, die ihr mir gehört, “ Edelbrechts Stimme klang in den Ohren des Angroscho nunmehr schrill und falsch – falsch wie die Worte, die aus seinem Mund drangen: „solltet euch glücklich schätzen unter meiner Herrschaft an diesem Ort leben zu dürfen.“
Ungläubig blickten die Neufarnhainer sich an. Hatte ihr junger Ritter nun vollkommen den Verstand verloren? So ziemlich jeder andere Ort des Fürstentums wäre ihnen im Moment lieber gewesen als hier auf dem zugigen Marktplatz ihres Dorfes zu stehen und sich die Tiraden des Jünglings länger gefallen zu lassen. „Verrückt, total verrückt“, raunte Dorwin seinem Zwillingsbruder Dwarrin zu, der betreten auf den Boden starrte. „Wenn er jetzt nicht gleich die Schnauze hält, lang ich zu. Ich schwör’s bei meinem Barte“ ließ sich Xolberon vernehmen und griff reflexhaft an seinen Werkzeuggürtel, so als könne er sich kaum mehr zurückhalten.
Edelbrechts Kopf ruckte herum und blickte in die Richtung der Zwergengruppe. Für einen kurzen Moment schien es so, als lauschte er auf die Worte eines unsichtbaren Sprechers. Oder sollte er etwas bemerkt haben? Doch noch ehe er sich besinnen konnte, schälte sich Etosch applaudierend aus der Menge und rief „Bravo, Wohlgeboren, wahre Worte. Sehr schön, sehr schön! Das muss begossen werden. Warum zieht ihr euch nicht schon einmal in eure Behausung zurück und ich bringe euch gleich etwas von unserem besten Bier, um sich ein wenig von den anstrengenden Regierungsgeschäften zu erholen?“ Edelbrecht nickte. Das klang plausibel. Viel zu lange hatte er sich schon mit dem Gesindel hier herumgeschlagen. Und so löste er die Versammlung auf, winkte noch einmal huldvoll, drehte sich um und lief schnurstracks in seinen „Palast“. Morgen würde er sich diesen nichtsnutzigen Garnelinger vornehmen. Viel zu lange schon schlich er um ihn herum und verpestete durch seine schiere Anwesenheit die Luft seines Herrn. Kopfschüttelnd sah Etosch ihm hinterher – lange ging das nicht mehr gut, da war er sich sicher…

04. Boron

Die Zwerge Neufarnhains saßen, nur spärlich beleuchtet von einer kleinen Öllampe, um einen Tisch im „Findling“ herum und starrten auf ihre Krüge, die mit schäumenden Bier gefüllt waren. Vergessen war das Malheur der letzten Neufarnhainer Tafel – im Gegensatz zu jetzt waren das geradezu unbeschwerte Tage gewesen, die sie vor einem Jahr verbracht hatten. „Und ich sage euch, Edelbrecht ist krank!" zerbrach Etosch das eisige Schweigen und stellte krachend seinen Humpen zurück auf die zerkratzte Tischfläche. „Irgendein Fieber hat ihn befallen, das ihn seither beutelt und durch seinen festen Griff schier den Verstand raubt…“
„Mir egal“, unterbrach Ramlosch brummend und erntete dafür ein bestätigendes Nicken seiner zwei Brüder „wir können uns das unmöglich alles länger gefallen lassen. Diesen Kommandeurston, dieses Herumstolzieren und das Schikanieren der einfachen Leute. Angroschverdammt, wir sind freiwillig hier. Wir sollten unsere Siebensachen packen und zurück in den heimischen Stollen ziehen, wenn er uns hier nicht mehr haben möchte.“
Bedächtig wiegte Dwarrosch den Kopf hin und her „Du solltest nicht fluchen, Ramlosch. Und dann bedenke was aus den Menschen würde, die wir hier zurücklassen würden und die dann ohne unseren Beistand der Willkür Edelbrechts ausgesetzt wären.“
„Dann sollen die halt mit uns ziehen“, warf Dorwin ein. „Edelbrecht kann dann alleine hier zurückbleiben.“
„Ach bitte, die Herren Zwerge, zerbrecht Euch nicht die Häupter, wahrscheinlich ist es nur eine kleine Unpässlichkeit seiner Wohlgeboren und er muss sich nur einmal wieder richtig ausruhen. Vielleicht vermisst er auch nur das heimische Borking.“ Leubold Garnelinger, der seit geraumer Zeit bei den Zwergen im „Findling“ untergekommen war und sein Nachtlager in einer Hängematte unter dem Dach bezogen hatte, richtete sich auf seinen Ellenbogen auf und schaute übermüdet in die Runde. „Wir sollten einfach abwarten, was die Zeit mit sich bringt. Vielleicht könntet ihr derweil das Licht löschen und…“ Die Angroschim beachteten den Leibdiener nicht und brüteten weiter schweigend vor sich hin, während ein heftiges herbstliches Gewitter über die Sümpfe hinwegzog.
Und doch war es Etosch gerade so vorgekommen, als habe er einen Laut von draußen vernommen… Da war es wieder… Klang es nicht ganz wie ein Schreien? Angestrengt lauschte der Ambosszwerg und stierte aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Und wirklich, als ein Blitz den schlammigen Dorfplatz Neufarnhains erleuchtete, erkannte er seinen Freund Edelbrecht, der breitbeinig mit hoch erhobenen Schwert am Brunnen stand und auf irgendetwas am Boden Liegendes blickte. Bei Angrosch, das war doch…
Etosch sprang auf, packte seinen Felsspalter, den er an der Wand der Kneipe befestigt hatte, riss die Tür des „Findlings“ auf und stolperte nach draußen. „EDELBRECHT, NICHT!“ schrie er in die Nacht hinein und rannte, so schnell ihn seine Beine tragen mochten zum Brunnen.
Knirschend traf das Blatt seiner Axt auf die scharfe Schneide des Anderthalbhänders, den Edelbrecht zum Schlag gesenkt hatte, nur einen Spann vom Hals des am Boden liegenden Brauwin Bockbusch entfernt. Funken stoben davon.
„Was mischt du dich da ein, Etosch?“ brüllte Edelbrecht.
„Bist du von Sinnen, Edelbrecht?“ schrie der Zwerg den jungen Mann, der ihn um zwei Köpfe überragte und nun erneut zum Schlag ausholte, an.
„Der Gerber hat den Tod verdient. Er hat es gewagt mir zu widersprechen! Geh mir aus dem Weg, Wicht!“
„Niemals, nur über meine Leiche!“ Erneut parierte Etosch den Schlag des Ritters. Alter Kampfesmut erwachte in seinen Armen. Aufgeschreckt von dem Tumult auf dem Platz kamen die Menschen und Zwerge aus ihren Hütten und beobachteten verschreckt die Szenerie, die sich ihnen bot. Keiner rührte sich und wagte es in diesem Moment dazwischen zu gehen, als Freund gegen Freund kämpfte und Etosch den Borkinger Schritt für Schritt von dem wimmernden Brauwin wegtrieb.
„Ich habe es geahnt, dass es ein Fehler war, dich und deine ganze verlauste Bande an dieser Unternehmung zu beteiligen. Dafür wirst du bezahlen!“ keifte Edelbrecht.
Ruhig wartete Etosch den nächsten Schlag seines Kontrahenten ab, wich mit einer Schnelligkeit, die man dem Zwergen nicht zugetraut hätte, aus und nutzte eine Blöße, die sich der Jüngling gab, um sich hinter seinen Rücken in eine vorteilhaftere Stellung zu bringen. Zu ungeduldig, viel zu ungeduldig, aber so waren sie, diese kurzlebigen Menschen. Es wäre ein Leichtes gewesen, Edelbrecht jetzt kampfunfähig zu machen, doch noch hielt ihre Freundschaft ihn zurück.
„Edelbrecht, hör zu, Junge beruhig dich doch…“
„AAAH“ mit einem abartig klingenden Schrei und mit hassverzerrter Miene stürzte sich Edelbrecht auf den Zwerg. Etosch riss den Stiel seiner Axt hoch und traf mit dem Griff seinen Gegner. Das Holz krachte mit einer solchen Wucht auf den Kiefer Edelbrechts, dass man die Knochen noch in Angbar brechen hören musste. Mit einem Stöhnen ging der Ritter zu Boden.
Etosch senkte die Axt und hielt Edelbrecht seinen rechten Arm hin, um ihn wieder emporzuziehen. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie zwei Neufarnhainer zu Brauwin liefen, um ihn in Sicherheit zu bringen. Immer noch lag Edelbrecht wie ein waidwundes Tier stöhnend am Boden.
„Komm schon, Edelbrecht“, sprach Etosch ihn begütigend an. Ruckartig schnellte Edelbrechts Kopf nach oben. Ein wutentbrannter Blick des Ritters traf den Angroscho und wenn Blicke hätten töten können, Etosch war sich sicher, hätte nun sein letztes Stündchen geschlagen.
Da traf ihn eine Mischung aus Speichel und Blut mitten ins Gesicht.
„Na los, bring es zu Ende, Zwerg! Erschlag mich! Das ist es doch was du willst. Das ist es doch, was du von Anfang an gewollt hast. Du wolltest die Herrschaft über mein Reich…“
Verwirrt schaute Etosch auf seinen Freund. Ja, war der denn vollkommen übergeschnappt. „Reich? Edelbrecht, was meinst du? Etwa dieses verkommene, von allen Göttern verlassene Stück Land? Mach dich nicht lächerlich. Komm hoch, jetzt! Verdammt, was ist denn nur los mit dir?“
Doch statt auf sein Versöhnungsangebot einzugehen, schüttelte Edelbrecht den Kopf. Eine weitere Hasstirade war die Antwort: „Keinerlei Ambitionen, ha, so ist Recht. Wahrlich, so bist du zur Herrschaft wohl nicht in der Lage. Verschwinde, Etosch“, Edelbrecht richtete sich mühsam auf „ich will dich nicht mehr sehen. Hau ab und nimm diesen verräterischen Abschaum Brauwin gleich mit dir. Bist du nicht gleich verschwunden, wenn ich mich gereinigt habe und aus meinem Palast komme, hänge ich dich an der nächstbesten Trauerweide auf und Brauwin…wird Ranzenfutter…“ Ohne den Zwergen noch eines weiteres Blickes zu würdigen, rappelte sich der Ritter nun gänzlich auf und humpelte zurück zu seiner Hütte. Doch auch Zwerge haben ihren Stolz und Etosch brauchte nicht lange, um die Neufarnhainer von seinem Weggang in Kenntnis zu setzen. Schnell schüttelte er zahlreiche Hände, tröstete einige weinende Kinder und packte seine Sachen zusammen. Mochte Edelbrecht ihm auch die Freundschaft aufgekündigt haben, so schnell gab er nicht auf. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu und er konnte es beweisen. Edelbrecht hatte blaue Augen, aber der hasserfüllte Blick war aus namenlos dreinschauenden roten Seelenspiegeln gekommen.
Er würde Hilfe brauchen…