Ein Tag in Moorbrück

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Hohentrutz, 1037

Beim ersten Aufstehen dachte Roban sofort an die Berge. Oder eher an ein Bergwerk, denn eine Horde winziger Zwerge hatte über Nacht eins zwischen seinen Ohren angelegt, und jetzt hämmerten und schürften sie, dass ihm eine Enthauptung beinahe willkommen scheinen wollte. Erst ein längerer Aufenthalt des schmerzenden Kopfes in einem Eimer mit kaltem Wasser trieb die lästigen Klopfer zumindest so weit zurück, dass Roban sein Tagwerk beginnen konnte.
Er fing damit an, seine letzten Erinnerungen an den ziemlich späten Abend – respektive frühen Morgen – zu sortieren, die Lücken dazwischen irgendwie einigermaßen sinnvoll zu füllen und zu hoffen, dass er sich nicht wieder zünftig daneben benommen hatte. Das Gesinde machte derweil einen respektvollen Bogen um ihn, aus guter Erfahrung. Erst nach einigen Minuten fragte er die Verwalterin Salwine nach den Gästen und ihrem Verbleib.
„Nach ihrer Anweisung haben wir Eure Gäste auf die Schlafstätten verteilt. Noch schlummern sie mehr oder minder sanft in Borons Armen.“
„Was heißt hier minder sanft?“ grollte Roban und massierte sich die Schläfen. Verdammt, da waren die Angroschim wieder. Scheinbar hatten sie nur im Inneren seiner Birne nach einem größeren Hammer gesucht.
„Dieser Herr...Siegesmund, oder wie der Außerkoscher heißt, der aus dem Bornland kommt wie die gelehrte Dame Salderken, nun...er schnarcht wie ein Bornbär. Sofern ein Bornbär ein riesiges Tier ist, dessen Schnarchen die Dachschindeln klappern lässt.“
„Wir haben Dachschindeln?“ brummelte Roban und blinzelte in Richtung des schilfgedeckten Daches.
„Er schläft ziemlich lautstark, Wohlgeboren, dass wollte ich damit sagen. Nur der junge Herr ist bereits auf den Beinen.“
Roban nickte. Marano hatte die Nase schließlich auch in die Federn statt in den Bierkrug gesteckt, was Wunder, dass er früher munter war die gestern noch so fröhliche Zecherrunde. Für einen Moment erwog er, Ladislaus aus dem Bett zu werfen, doch einige kräftige Hammerschläge gegen die Innenseite seines Schädels bewegte ihn dazu, den Freund nicht zu stören. Womöglich schürfte man auch in dessen Kopf nach weiß-Ingerimm-was.
In diesem Moment kam Marano von draußen herein und blickte zu Roban.
„Guten Morgen, Wohlgeboren“, grüßte er, bevor er zu seinem Lager weiterging, um etwas aus seinem Beutel zu holen. Dabei stieß er aus Versehen neben Ladislaus Lager an ein Brett, das wiederum gegen dessen Lager stupste. Dieser erwachte wie ein Soldat. Schlagartig setzte er sich auf und hatte noch in der Bewegung sein Schwert halb gezogen, während er sich umblickte und die Lage erfasste.
„Verzeihung“, ertönte es unisono aus den Mündern von Marano und Ladislaus, während letzterer sein Schwert wieder in die Scheide zurückstieß und die Beine vom Lager schwang. Sitzend bemerkte er, dass auch Roban wach war und nickte diesem zu.
„Guten Morgen.“
Dann stand er endgültig auf und ging vor die Kate, um sein Wasser abzuschlagen und die frische koscher Luft zu atmen. Mit einem Blick auf den noch immer schlafenden Sigismund meinte er:
„Roban, ich hoffe, du hast ihm gesagt, welche Stämme er noch stehen lassen soll.“
Ohne Zweifel, Ladislaus war wach. Als er wieder hinein ging, wollten ihm die beiden großen Hunde folgen, doch ein Blick genügte und sie stoppten an der Schwelle, sahen ihm einen Moment lang nach und wandten sich dann wieder um, während Ladislaus seinen Waffenknecht antickte.
„Aufwachen, Zsigmond.“
Fertig anziehen und startklar sein war eine Sache von wenigen Augenblicken: Feldgewohnheit. Dann wandte sich Ladislaus wieder seinem Freund zu und blickte diesen nachdenklich an – um sich dann nach dem Gesinde umzublicken und seine Frage statt an Roban an Salwine zu richten:
„Was gibt es schönes zum Frühstück?“
„Brot, Wasser oder Dünnbier sowie Käse und Dörrobst, Wohlgeboren“, antwortete diese sofort. „Ich hole Lindwina, damit sie euch aufträgt.“
Ladislaus nickte dankbar, und schon nach wenigen Minuten stand ein einfaches, aber sättigendes Frühstück auf dem Tisch, und sie langten ordentlich zu.
„Wie machen wir denn jetzt weiter? Willst du direkt weiter, oder noch mal nachgrübeln?“ fragte Roban zwischen zwei Bissen. Immerhin, sein Magen stänkerte nicht. Daran hätte ein Kopf sich ruhig ein Beispiel nehmen können...
„Grübeln? Nein, dafür ist das Wetter draußen viel zu schön.“
Gut, es regnete draußen und war recht kühl – aber die Luft war auf koscher Art herrlich erfrischend und tobrische Gefahren gab es auch nicht. Ladislaus grinste seinen Freund an.
„Außerdem glaub ich, dass dir ein wenig Bewegung draußen hilft, die kleinen Plagegeister hinter deiner Stirn los zu werden. So, wie du kuckst, haben sie bereits weitere Hämmerchen geschmiedet.“
Er wandte sich Lindwina zu, bedankte sich für das Essen und erhob sich.
„Girte wird sich auch freuen, nehme ich an. Raus an die frische Luft mit ein paar Gefährten auf vier Hufen. Komm, mein Freund, und zeig mir, wie schön meine Heimat ist.“
Er stieß die Tür auf, atmete tief und genießend ein und wandte sich dann den Pferden zu, um sich von ihrem Gesundheitszustand zu überzeugen und sie dann eigenhändig aufzuzäumen. Er liebte diese Tätigkeit, warum sollte er sie also andere machen lassen, zumal Äkki und Inger eh wählerisch waren, wen sie an sich ranließen. Marano durfte es, Sigismund nicht.
“Keine Hämmerchen, ausgewachsene Spalteisen. Aber recht hast du, ein wenig Bewegung schadet nicht. Und die Schönheit der Heimat sieht man ehesten Richtung Hammerschlag – der Moorbrücker Sumpf ist so schön wie eine Ranze von hinten!”
Sie beließen es bei einem eher kurzen Rundritt, bei dem Ladislaus einen Eindruck von der Größe der Herausforderung gewann, die eine Besiedlung des Sumpfes darstellte. Wohin man blickte, überall das gleiche flache, trügerische Land voll gelb-grünlichem Gras, bisweilen eine faulig wirkende Pfütze, dazwischen dürres Gestrüpp, kaum genug, um mehr als ein paar Schafe oder Ziegen durchzubringen. Mehr als einmal mahnte Roban zu einem Richtungswechsel, wenn das vor einem liegende Gelände zu unsicher wurde.
“Bei diesem Regen werden die Feuchtwiesen zu den reinsten Todesfallen. Schon bei unserem ersten Gang haben wir ein Pferd in dieser Pampe verloren, und beinahe den Vogt der Baronie noch dazu. So schön es ist, dass der Regen den Mief des Sumpfes wegwäscht, so riskant ist es, jetzt die Richtung zu verlieren. Deshalb haben wir Richtung Hammerschlag Zaunstickel eingeschlagen, damit Ortsunkundige zumindest wissen, wo lang sie müssen.”
“Die haben auf dem Hermarsch sehr geholfen”, bestätigte Ladislaus. “Aber warum hing an jedem ein Tuchfetzen?”
“Du meinst die weißen – oder ehemals weißen – Tuchstreifen?” Roban grinste. “Ganz einfach. Die Seite mit dem Tuch weist Richtung Hohentrutz, die ohne gen Hammerschlag. Dafür haben wir zwei alte Bettlaken zerschnippelt!”
“Nicht dumm”, schmunzelte Ladislaus. “Auch wenn die Tücher mittlerweile fast die gleiche Farbe haben wie die Stickel – schmutzigbraun!”
“Das ist die hier vorherrschende Farbe”, brummelte Roban grinsend. “Ein Fehltritt, und du trägst sie von Kopf bis Fuss. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede!”
Da der Regen nachließ und zunehmend Nebel aus dem Wiesen stieg, lenkten sie ihre Schritte zurück nach Hohentrutz. Sie kamen gerade recht zum Mittagsmahl, wie ihre knurrenden Mägen bestätigten.
Sicherlich war dieser Ritt kein leichter gewesen – doch Ladislaus hatte ihn in vollen Zügen genossen. Es tat so gut, einmal mit den Unwägbarkeiten des Bodens kämpfen zu müssen und nicht mit pervertierter Natur, feindlichen Soldaten oder gar monströsen Kreaturen oder Dämonen, was er auch kommentierte:
„Nun, für meinen Geschmack ist dein Sumpf schön, bester Freund, er hilft, die Bilder aus dem Kopf zu treiben, die wirklich hässlich sind.“
Ein Schauer lief durch den Körper des Heimgekehrten, unwillkürlich und nicht zu unterdrücken.
„Aber du hast recht, dank des wackeren Lechdan habe ich den Weg zu dir gut gefunden und bin nicht stecken geblieben – aber der Ritt in die Berge sollte wohl überlegt sein. Es sieht zwar seltsam aus, wenn Rittersleute hinter einem Esel herreiten – aber in Tobrien und auf dem Weg hierher hat mir die gute Inger ein paarmal das Leben gerettet. Esel sind nicht stur, wie gern behauptet wird – sie haben einfach einen besonderen Sinn für Gefahren.“
Er gab Marano einen Wink, woraufhin dieser zu Ladislaus aufschloss und der Ritter der Eselin den muskulösen Hals klopfte. Am Rande des Moores zügelte er seinen Hengst und ließ den Blick über die Landschaft streichen. Es war zwar nicht sein heißgeliebtes Hochgebirge, aber auf eine bizarre, schwer in Worte zu fassende Art war diese Landschaft schön. Auch Sigismund und Marano betrachteten das Moor und auf einmal rief der Bursche begeistert:
„Schaut mal dort, Hoher Herr, der Vogel hängt ja kopfüber an dem Schilfrohr! Und dort, in diesem Flecken mit Röhricht… wenn Ihr genau hinseht, erkennst Ihr, dass dort ein gestreifter Vogel zwischen den Halmen steht und so tut, als sei er selbst Schilfrohr! Euer Wohlgeboren, ich glaube, Ihr müsst einfach neu blicken lernen, damit Ihr seht, wie schön Ihr es hier habt!“
Die Begeisterung auf den Gesichtern des Heimgekehrten und seiner Begleiter war echt und sie strahlten über das ganze Gesicht. Doch nun lockte Roban mit der Aussicht auf ein Mittagsmahl. Ladislaus wandte Äkki der Siedlung zu und ließ ihn im ausdrucksstarken horasischen Schritt neben Robans Girte gehen. Ein wenig Konzentration und Kopfarbeit konnte dem Hengst schließlich nicht schaden, besonders, wenn es bald in die Berge gehen sollte.
Ladislaus war sehr zufrieden mit dem Tier. Es hatte ihn durch manche Gefahren und vielfältige Landschaften getragen, manches Mal war er vorangegangen und hatte den Hengst am Zügel geführt, aber bisher war er noch auf keine Landschaft gestoßen, mit dem dieses Pferd eine Schwierigkeit gehabt hätte. Manch einer hatte ihn zu Anfang ob seines „Wintershadif“ belächelt, den er von einem Nivesen als Dank für dessen Lebensrettung erhalten hatte. Äkki hatte sich als hervorragendes Ritterpferd herausgestellt, auf welchen Wiesen auch immer seine Vorfahren gegrast haben mochten.
„Doch nun komm, du hast Essen versprochen“, zwinkerte er Roban zu und ließ seinen Hengst vom horasischen Schritt in die Passage übergehen. „Was meinst du, wie viele Tage brauchen wir zur Vorbereitung des Rittes in die Berge? Ich möchte gern den Rukobon und die Tanithbuckel aus der Nähe sehen. Meine Begleiter haben die höchsten Berge meiner Heimat noch nie von Nahem gesehen. Sicher, auf dem Weg hierher konnten sie bereits einen wolkenverhangenen Blick erhaschen, aber aus der Nähe ist es doch etwas anderes.“
Währenddessen spähte Sigismund zwischen den Nebelschleiern hindurch und fragte sich, was an diesen schroffen, abweisenden Hängen schön sein sollte. In seiner Heimat wurden die Walberge gemieden. Da waren ihm sumpfige Böden und dichte, dichte Wälder doch deutlich vertrauter. Aber wenn sein Herr soviel Begeisterung dafür verspürte, sollte es wohl auch sein, Sigismunds Schaden nicht sein. Eines war sicher: war Ladislaus in den vergangenen Wochen voller Tatendrang, so sprühte er nun nur so vor Energie und Lebensfreude, kaum, dass seine Heimat im Hochgebirge in greifbare Nähe gerückt war. Lächelnd bemerkte er, dass er bereits jetzt anfing, die Berge mit anderen Augen zu sehen.
„Tscha, so einen vollen Tag bräucht ich dann doch“, sinnierte Roban vor sich hin, „Krempel packen, Anweisungen geben, schon mal vorsorglich Feuer unterm Hintern machen, dass bis zu meiner Rückkehr brennt...dann sollten wir wiederum gen Hammerschlag reiten und dort Vorräte besorgen. Besonders reich ausgestattet sind wir hier eben nicht. Von dort aus können wir gemütlich gen Amboss ziehen, die Straßen sind anständig, die Gasthäuser reichlich, und wenn uns so ein Räuberpack ans Fell will, gibt´s einen Satz warme Löffel. Wenn wir uns nicht allzu sehr hetzen erreichen wir die Berge in ein, zwei Tagen, dann noch ein guter Tag Aufstieg bis Eisenhuett, wo wir uns erst mal bei meiner Familie einnisten und das weitere planen können. Und wegen deines Tragtieres mach dir keine Sorgen – ich kenne Menschen, die sind störrischer als jedes Grautier, und beileibe nicht so nützlich! Und auf dem Roterzpass geht so ein Esel garantiert sicherer als die meisten Zossen, der ist nämlich nur auf dem Papier gut ausgebaut. Die Wirklichkeit sieht an einigen Passagen anders aus.“
„So schlimm? Ich dachte, als Verbindung nach Almada sei der Pass breit und gut passierbar?“
„Es ist nicht der Greifenpass, aber mit einem kleinen Fuhrwerk kommt man wohl rüber“, lenkte Roban ein. „Aber es gibt einige Engpässe, da passen kaum zwei Fussgänger nebeneinander durch, geschweige denn Reiter oder Wagen. Und ein paar Kehren sind so eng, dass man den Fuhrknechten Respekt zollen muss, die jahrein, jahraus ihre Karren da hoch und später voller Erz und Eisen wieder runter lenken. Allerdings habe ich im Wald abseits des Weges auch so manchen Rest von unglücklichen Wagen gesehen – und einige sehen so aus, als wären sie ihren Lenker zum Grab geworden.“
Marano schluckte angesichts dieser Ankündigung, was Roban mit einem schiefen Grinsen quittierte.
„Aber was soll´s! Wir kommen ja nicht mit der Eilkutsche wie eine kusliker Puderquaste! Das ist zwar beschwerlicher, aber garantiert auch weniger gefährlich. Außerdem ist die Aussicht vom Pferderücken ohnehin besser. Wenn man ganz oben auf dem Pass steht und der Himmel klar ist, kann man in der Ferne noch den Angbarer See glitzern sehen! Oder zumindest noch den Großen Fluss!“
„Zumindest Wasser konntest du ausmachen“, lachte Ladislaus. „Also, dann lass uns in morgen in aller Frühe aufbrechen!“