Uztrutzer Umtriebe - Ein Abend auf Burg Salmingen
Dieser Text entstand als Teil des Briefspiels Uztrutzer Umtriebe
Der selbst von mehreren großen Kerzenständern nur mäßig erhellte Grafensaal der uralten Burg Salmingen kündete von der weit mehr als tausendjährigen Geschichte des hesindegefälligen Adelshauses derer zu Salmingen: Am Kopfende stand der zur Gänze mit gediegenem Silber beschlagene Grafenthron, auf dem seit nunmehr 768 Jahren niemand mehr Platz genommen hatte. Die vier Grafen zu Ferdok, die die Salminger zwischen 162 und 270 BF stellten, standen in Lebensgröße aus Marmor gehauen zur linken und zur rechten desselben. Die Wand hinter dem Grafenthron war geschmückt von den jeweils zwei Schritt breiten Bannern der Baronien Dunkelforst und Baruns Pappel – nach dem Verlust des nordmärkischen Dohlenfelde war Hagen von Salmingen-Sturmfels bedauerlicherweise nur noch rechtmäßig gekrönter Baron zweier Baronien.
Den größten Teil des Raumes nahm die U-förmige Rittertafel ein, an deren Kopfende die beiden aus Blutulmenholz gearbeiteten Stühle der Baronin und des Barons zu Dunkelforst standen. An der gewölbten Decke des Saales fanden sich die mit äußerster Kunstfertigkeit gemalten persönlichen Wappen aller Barone und Baroninnen zu Dunkelforst, von denen selbst die ältesten noch in schillernden Farben erstrahlten, offensichtlich Magie oder gar ein Wunder der Herrin Hesinde. Denn wie die göttliche Schlange der Weisheit selbst wanden sich die Wappen der Barone spiralförmig vom höchsten Punkt des Gewölbes, das einem Hexagramm der Elemente vorbehalten war, elegant nach unten.
Das vorletzte Wappen war dasjenige Baron Hagens. Dieser hatte sich in den letzten fünf Götterläufen, seit er das Kommando über die Koscher Kompanie „Herzogin Efferdane“ innehatte, kaum noch im Kosch blicken lassen. Einerseits stritt er mit aller Kraft und voller rondrianischem Eifer wider die Ungeheuerlichkeiten, die dort im Osten lauerten. Andererseits konnte nur ein Blinder übersehen, dass Hagen ganz bewusst großen Abstand zum Westen des Reiches hielt, dem Ort seiner schmählichsten Niederlage, der Schlacht auf dem Schönbunder Grün im Rondra 1033 BF. Ein Barde aus der Schule der Torbenia hatte jüngst in Ferdok gewitzelt, dass Hagen sich sicherlich auch für den Kampf in Riesland freiwillig gemeldet hätte, hätte die Königin auch dort verlorene Provinzen zurückzuerobern…
So saß nicht Hagen, sondern seine große, schwarzhaarige, seit der Geburt ihrer Kinder aber nicht mehr ganz so hagere Gattin Ansoalda Irmegund von Leihenhof zum Galebquell – deren Wappen das letzte des Deckengemäldes war – an der Tafel, ihr gegenüber ihre Schwiegermutter Frylinde von Salmingen. Die beiden der Herrin Hesinde nahestehenden Damen genossen ein Krüglein Eslamsgrunder Wein und ein wenig Zuckergebäck, dabei lasen sie sich abwechselnd aus einem neu erschienenen horasischen Gedichtband vor. Sie waren sichtlich vergnügt und verstanden sich vorzüglich – Frylinde hatte sich Ansoalda schließlich nicht ohne Grund als ihre Schwiegertochter ausgesucht.
Ein Lakai betrat den Grafensaal mit einem gesiegelten Brief. Er überreichte diesen Frylinde schweigend und zog sich rasch zurück.
Eigentlich wollte Frylinde noch das Gedicht fertig lesen, mit dem sie gerade begonnen hatte, doch dann übermannte sie die Neugier. Sie nahm den Briefumschlag, brach das Siegel, entnahm das Schreiben – und atmete tief durch. „Roban…“, sagte sie nur, ihre Stirn legte sich in Falten. Nachdem Frylinde den Brief gelesen hatte, reichte sie ihn an Ansoalda weiter. Auch diese atmete tief durch und ließ sich in ihren Sessel zurücksinken.
Roban von Treublatt hatte harte Forderungen gestellt. Nun also forderte er den Gefallen ein, den ihm Hagen aus dem Streit um Dohlenfelde noch schuldig war. Und da Ansoalda und Frylinde die Amtsgeschäfte für den abwesenden Herrn Baron führten, lag es nun an ihnen, diese Ehrenschuld zu begleichen.
„Derya von Uztrutz?“, fragte Ansoalda: „Ist das nicht diese hässliche Kuh?“ Frylinde nickte zustimmend und schaute leicht angewidert beim Gedanken an die Tochter Alrichs. Ansoalda fuhr fort: „Und was ist eigentlich mit den Uztrutzern? Neuadel aus der Kaiserlosen Zeit, also kaum wert, adlig genannt zu werden, zudem Verschwörerbarone, mit den Nadoretern im Bunde? Was haben wir mit denen zu schaffen? Oder überhaupt mit den ganzen undurchschaubaren Intrigen Robans?“
Frylinde lächelte und sprach mit einem süffisanten Grinsen: „Als neuadlig gilt die Koscher Linie der Treublatts auch. Aber abgesehen von diesem heraldischen Detail: Um Derya geht es meinem Schwager nicht. Er möchte seinen schielenden Enkel Berwin auf dem Uztrutzer Thron sehen. Landvogt Roban möchte endlich wieder eine Erbbaronie für seine Familie. Die Frage ist nun, wie wir Robans unverschämte Forderungen erfüllen, ohne uns zu ruinieren oder unser Ansehen zu kompromittieren.“ Sie machte eine kurze Pause, leerte ihren Krug und ergänzte: „Es gilt nun einmal, um den Wappenspruch meines verstorbenen Gatten zu zitieren: Im Zweifel für die Familie.“
Ansoalda schauderte, wenn sie daran denken musste, wie viel Ungerechtigkeiten und Verbrechen schon mit dieses Motto der nordmärkischen Sturmfelser gerechtfertigt worden waren. Doch bevor ihr eine geistvolle Replik einfiel, ergriff schon wieder ihre Schwiegermutter lächelnd das Wort: „Ach, Ansoalda, jetzt lebst Du schon so viele Jahre hier in Salmingen, und noch immer bist Du die brave Hinterkoscherin, die ich einst nach Dunkelforst holte. Was soll ich also sagen außer nochmals: Herzlich willkommen im Kosch!“
Ansoalda lächelte höflich zurück, musste dann aber loslachen und steckte Frylinde mit ihrem fröhlichen Lachen sofort an. Dann winkte Ansoalda ihre Pagin herbei, um sich und Frylinde vom süffigen Eslamsgrunder nachschenken zu lassen. Auch das kleine Mädchen hatte auf Burg Salmingen schon viel gelernt, aber an einer Koscher Urtugend mangelte es ihm noch: Die Pagin sah noch immer nicht, wann der Krug ihrer Herrin leer und deren Kehle trocken war!
(hb)