Unter dem Schleier - Blutige Distel: Unterschied zwischen den Versionen
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„Nein“, erwiderte die Junkerin, „Es sind nicht deine Narben. Es sind deine Augen. Du hast ihre Augen. Die Augen deiner Mutter.“ Sie seufzte schwer. „Und für einen winzigen Augenblick, da glaubte ich, sie sei es, die mich anblicke...“ | „Nein“, erwiderte die Junkerin, „Es sind nicht deine Narben. Es sind deine Augen. Du hast ihre Augen. Die Augen deiner Mutter.“ Sie seufzte schwer. „Und für einen winzigen Augenblick, da glaubte ich, sie sei es, die mich anblicke...“ | ||
Eira wandte sich zu einer kleinen Nische und setzte sich an einen steinernen Sag. Geradezu zärtlich strich sie über die massive Grabplatte und wisperte leise: „Die ''weiße Nelke'' hat sie zu mir zurück gebracht. | Eira wandte sich zu einer kleinen Nische und setzte sich an einen steinernen Sag. Geradezu zärtlich strich sie über die massive Grabplatte und wisperte leise: „Die ''weiße Nelke'' hat sie zu mir zurück gebracht. Seitdem ruht sie hier. Bei mir.“ | ||
Marbolieb schluckte. | Marbolieb schluckte. |
Version vom 23. Januar 2020, 12:25 Uhr
Burg Rabenwacht, 30. Travia 1043
Als sich die Tür zu der kleinen Kapelle auf Burg Rabenwacht öffnete, schreckte die Junkerin zusammen. Eira ni Rían stand mit dem Rücken zu den beiden gerade eintretenden Besuchern. Auch als Líadáin ni Rían zu sprechen begann, dreht sie sich nicht um: „Räblein, das ist meine Schwester Eira ni Rían, Junkerin zu Rabenwacht.“ Sie hielt einen Moment inne, deutet neben sich und stellte die Novizin vor: „Blutige Distel, dass ist Marbolieb Tempeltreu.“ Noch immer drehte sich die Junkerin nicht um.
„Boron mit Euch, Euer Wohlgeboren“, grüßte die Novizin leise und augenblicklich jagte ein kalter Schauer Eiras Rücken hinab. Sie schüttelte sich leicht.
„Lass uns bitte allein, weiße Nelke“, bat die Hausherrin.
Fragend blickte Marbolieb ihre Mentorin an, die zögernd nickte: „Ich werde vor der Tür auf dich warten, Räblein. Sei ohne Furcht. Dir wird in diesen Mauern niemand ein Leid zufügen. Du musst wissen, meine Schwester hat deine Mutter sehr geliebt. Aus der Tiefe ihres Herzens...“
Da begannen stumme Tränen über die Wangen der Junkerin zu rinnen. Eilig wischte sie sie fort.
„... und hat damit auch nie aufgehört“, endete die Geweihte und ging hinaus.
Es wurde still. Unerträglich still. Marbolieb fröstelte.
„Die weiße Nelke behauptet, du seist ihre Tochter“, die Ritterin drehte sich um und kam ihr bedrohlich nahe, „Sie behauptet, du hättest ihre...“ Mit einem beherzten Griff zog Eira der jungen Novizin ihren feinen schwarzen Schleier aus dem Haar. Marbolieb war so entsetzt, dass sie keinen einzigen Ton herausbrachte. Die Junkerin zuckte bestürzt zurück. Ihre Pupillen weiteten sich. Sie wollte etwas sagen, brachte aber erst nichts rechtes zustande bis sie dann schlussendlich hervorwürgte: „... Augen. Du hast... ihre Augen!“ Ihr entglitt der Schleier, sie wandte sich ab. „Ich habe... habe es ihr nicht glauben... wollen. Nicht können. Doch...“ So langsam sickerte die Wahrheit, die sie nicht hatte hören wollen, in sie hinein: Das Mädchen war ihre Tochter. Ihr Fleisch. Ihr Blut. „... nun? Nun stehst du vor mir und blickst mich aus ihren Augen an.“ Sie schauderte. „Aus ihren Augen!“
Inzwischen hatte Marbolieb ihren Schleier wieder in ihr Haar gesteckt. „Dann...“, stammelte sie verunsichert, „Dann... dann habt Ihr mich nicht angestarrt, weil... weil... ?“
„Nein“, erwiderte die Junkerin, „Es sind nicht deine Narben. Es sind deine Augen. Du hast ihre Augen. Die Augen deiner Mutter.“ Sie seufzte schwer. „Und für einen winzigen Augenblick, da glaubte ich, sie sei es, die mich anblicke...“
Eira wandte sich zu einer kleinen Nische und setzte sich an einen steinernen Sag. Geradezu zärtlich strich sie über die massive Grabplatte und wisperte leise: „Die weiße Nelke hat sie zu mir zurück gebracht. Seitdem ruht sie hier. Bei mir.“
Marbolieb schluckte.
„Sie war alles für mich. Einfach alles. Als sie starb, da verlor nicht nur sie ihr Leben, sondern ich verlor auch meines“, die Ritterin suchte den Blick der Novizin, „Hätte ich von dir gewusst, dann...“ Ihre Stimme brach.
„Was dann?“, hauchte Marbolieb leise.
„Ich weiß nicht“, gestand die Junkerin da schulterzuckend ein, „Ich weiß es einfach nicht. Ich...“ Sie senkte demütig ihr Haupt. „Ich kann mir selbst jetzt nicht vorstellen, dass sie je mit einem Mann...“ Erneut brach ihre Stimme. „Aber es muss wohl so gewesen sein. Du bist der Beweis.“ Sie hob ihren Blick wieder und bat: „Setz dich zu mir.“
Marbolieb setzte sich zu ihr in die Nische. Dann schwiegen sie sich an. Eine ganze Zeit lang.
„Wie... wie... wie war sie?“, hob die Novizin mit leiser Stimme an, „Wie war meine Mutter?“
Eira lächelte versonnen und erwiderte: „Wunderbar. Sie war einfach... wunderbar. Und... und... und so wunderschön. So... so...“ Sie blickte zu Marbolieb. „... so wie du.“
„Ich“, stammelte die Angesprochene da, „Ich bin doch nicht... schön! Ich bin...“
Eira lachte: „Genau das hätte sie auch gesagt. Genau das. Sie war so, wie du bist. Vielmehr bist du, wie sie war. Ja, du bist wie sie...“ Sie schwelgte in Erinnerungen.
„Aber sie... sie hatte doch keine Narben?“
„Keine, die man sehen konnte“, erwiderte Eira sehr ernst, „Bei ihr war es die Seele. Sie trug Wunden, die einfach nicht heilten, ganz gleich was sie tat. Es war mir egal. Ich hab sie geliebt. Bedingungslos geliebt. Damit habe ich nie aufgehört. Auch heute gehört mein Herz allein ihr.“ Sie hielt einen Moment inne. „Es gab nie jemand anderen an meiner Seite. Ich wollte auch nie jemand anderen. Ich wollte immer nur sie. Von jenem Augenblick, da ich sie das erste mal sah, da wollte ich immer nur sie.“
Marbolieb hörte aufmerksam zu.
„Es fühlt sich an, als würde sie neben mir sitzen“, erklärte die Junkerin und strich bedächtig über die Grabplatte des steinernen Sarges, ehe sie wieder die Novizin anblickte. Ihre Gesichtszüge waren weich. Ihre Augen glitzerten. „Dabei sitzt du neben mir. Du, ihre Tochter. Zweifelsohne bist du das, ihre Tochter. Du siehst nicht nur aus wie sie, du bist wie sie. Als… als ob ihr ein- und dieselbe Person wärt.“ Sie lachte. „Ich weiß, dass es Unsinn ist. Aber... aber... es fühlt sich so an.“
„Gefühle sind immer das was sie sind, Euer Wohlgeboren: Gefühle. Sie kennen kein Richtig und auch kein Falsch.“
„Ich sehe auch meine Schwester hat ihre Spuren hinterlassen“, meinte Eira nickend, „Sie hat... sie hat mir erst vor kurzem von dir erzählt. All die Götterläufe habe ich nichts gewusst.“ Sie lachte. „Gar nichts. Nicht einmal erahnt. Dabei hast du die ganze Zeit bei ihr gelebt. Sie hat ihr Schweigen erst vor kurzem gebrochen. Ich weiß nicht, warum sie es mir jetzt gesagt hat. Es ist auch nicht wichtig. Nicht mehr. Ich habe lange darüber nachgedacht, warum es alles so gekommen ist und nicht anders, doch ich habe keine Antwort gefunden. Warum hat sie dich nicht mir, sondern der weißen Nelke anvertraut? Du hättest es bei mir gut gehabt. Ich hätte dich großgezogen, wie mein eigenes Kind. Du hättest mein Erbe antreten können. Doch vor allem wäre immer etwas von ihr bei mir geblieben.“ Tränen funkelten in ihren Augen. „Ich werde wohl nie erfahren, warum es so gekommen ist, wie es kam.“ Sie schluckte. „Bei all den Dingen, die ich nicht weiß und auch nie wissen werde, so weiß ich doch eines: Die weiße Nelke ist nicht nur die beste Boron-Geweihte weit und breit sondern sie ist auch die beste Ziehmutter, die du hättest haben können. Sie liebt dich wie ihr eigenes Kind, wie auch sie dich geliebt hätte. Besser hättest du es nicht treffen können.“
Marbolieb konnte nur nicken.
„Es ist bereits spät und ich bin müde“, schloss die Ritterin da sichtlich erschöpft, „Geh zu Bett, Marbolieb.“ Sie schloss die Novizin zärtlich in die Arme. „Wir haben so lange auf diesen Tag gewartet“, sie lachte kehlig, „Wir können auch noch einen weiteren warten. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Dann hauchte sie ihr einen Kuss auf die Stirn. „Boron mit dir, mein Kind. Boron mit dir.“