Wengenholmer Geister - Zu Besuch auf Erlenschloss

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Erlenschloss, Mitte Firun 1041

Halmar deckte den sechsjährigen Helmbrecht vorsichtig zu. Ihn nun aufzuwecken würde die halbstündige „zu Bett geh“-Zeremonie wieder von vorne beginnen lassen und noch einmal würde er das Buch über den wackeren Hanghasen Baduar nicht mehr vorlesen können. Thalessia schlief glücklicherweise bereits und war auch nicht so leicht aufzuwecken wie ihr Bruder. Leise schlich sich Halmar aus dem kleinen Kinderzimmer. Es dauerte fast eine ganze Minute, bis er die Tür zum Kinderzimmer geschlossen hatte. Seine Frau Perainhild sah ihm dabei lächelnd zu. Es war schon spät und Helmbrecht hatte sich schon allzu lange gegen das zu Bett gehen gesträubt, aber jetzt war endlich Ruhe. So hofften die beiden Eheleute jedenfalls.

Zufrieden ließ Halmar sich auf die Sitzbank neben seine Angetraute fallen und streckte die Füße genüsslich aus. Der kleine Kinderhocker im Zimmer seiner Kinder war auf die Dauer nichts für seine Knie. Perainhild wandte sich wieder ihren Stickereien zu. Halmar saß etwas unschlüssig neben ihr und versuchte sich ein angenehmes Thema zurechtzulegen. Meist redeten sie eigentlich nur über ihre Kinder, aber sonst hatten die beiden sich oft nicht besonders viel zu sagen. Halmar war sechs Jahre im Osten gewesen. Die Jahre dort hatten ihn verändert und auch Perainhild hatte sich verändert, immerhin hatte sie ihre beiden Kinder ohne ihn aufgezogen und das trotz ihrer Pflichten als Kammerzofe der Erbprinzessin, Fürstin, korrigierte sich Halmar. Halmar war freilich immer mal wieder zu Besuch gewesen, aber sie hatten sich über die Jahre dennoch entfremdet. Seitdem er vor einem Jahr aus Tobrien zurückgekehrt war, hatte sich ihr Verhältnis rasch gebessert, aber da war noch immer eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen, wenngleich sie kleiner geworden war. Da half es nicht gerade, dass er sich wie ein Faulenzer vorkam. Er hatte nur ein kleines Lehen zu verwalten und ab und an hatte sein Vater einen Auftrag für ihn, aber im Großen und Ganzen hatte er nicht viel zu tun. Perainhild hingegen hatte alle Hände voll zu tun, ganz besonders seit der Fürstenkrönung von Anshold und Nadyana, denn seither war es weitgehend aus mit der Ruhe auf dem Erlenschloss.

„Komm, wir müssen noch wo hin.“ Perainhilds Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sie ihre Stickereien zur Seite gelegt hatte und aufgestanden war.
„Wohin denn?“ fragte er neugierig.
„Wirst du schon sehen.“ Sie lächelte ihm verschmitzt zu.
Halmar fragte nicht weiter und folgte seiner Frau durch eine verwirrende Anzahl von Gängen durch das nächtliche Erlenschloss.
Perainhild hatte ihren Mann bis zu dem kleinen Kaminzimmer geführt. Vor der Tür stand nur Kordan von Pirkensee Wache, der Hauptmann der Fürstlichen Hellebardiere höchstselbst. Halmar und Kordan hatten beide ihre Karriere als Bannerträger in den fürstlichen Soldkompagnien begonnen. Perainhild blieb an der Tür stehen und bedeutete ihm, reinzugehen.
Nachdem Halmar und Kordan sich die Hand zum Kriegergruß gegeben hatten, fragte Halmar Kordan:
„Weißt du, was hier los ist?“ Kordan schüttelte nur den Kopf. „Nein, aber es wird wohl wichtig sein, also rein mit dir.“
Als Halmar das Kaminzimmer betrat, sah er, dass nur eine kleine und erlesene Runde anwesend war. Fürst Anshold stand mit dem Gesicht zum Kamin. Im Halbkreis um den Kamin standen mehrere Lehnsessel. Dort saßen Cantzler Nirwulf, Fürstin Nadyana sowie der Hofmagier Voltan von Falkenhag und der Seneschalk Kuniswart vom Eberstamm. Hinter ihm betrat Perainhild ebenfalls das Zimmer und gab ihm einen sanften Stubs.
Kuniswart nickte dem jungen Mann zu und räusperte sich dann. „Halmar von Sindelsaum, wie gewünscht.“
Anshold wendete sich um und lächelte dem jungen Sindelsaumer zu.
„Ah, Sindelsaum, schön dass Ihr gekommen seid. Setzt Euch doch.“ Sprach's und deutete dabei auf zwei freie Lehnstühle. Anshold wartete, bis Halmar und Perainhild sich gesetzt hatten.
„Ich habe einen heiklen Auftrag für Euch, Halmar. Ein Auftrag, der äußerstes Stillschweigen und Diskretion erfordert. Ich habe Euch rufen lassen, da Ihr meinem Vater viele Jahre treu in Tobrien gedient habt. Nun habe ich einen anderen Auftrag für Euch.“ Kurz hielt Anshold inne, dann fuhr er fort. „Sagt euch der Name Harrad vom Eberstamm etwas?“ Halmar nickte. „Ein Vetter Eurer Durchlaucht, war früher Reichs-Medicinal-Rat, aber zog vor einigen Jahren gen Osten.“ Halmar hätte noch mehr sagen können, etwa von den Gerüchten, dass Harrad sich den Schwarztobriern angeschlossen hatte, aber er behielt dies lieber für sich.
Anshold nickte dem jungen Adligen freundlich zu. „Das ist richtig, allerdings wurde Harrad am 15. Travia 1040, also genau ein Jahr vor dem Todestag meines Vaters, in Beilunk festgenommen. Ihm wurde unterstellt, Kontakt zu Herzog Arngrimm gehabt zu haben, aber es stellte sich heraus, dass er unschuldig war. Zwar hat Arngrimm versucht, ihn zu manipulieren, aber damit keinen Erfolg gehabt. Dennoch wollte der Reichs-Großgeheimrat sichergehen und so wurde er zur Läuterung in ein Praios-Kloster nach Greifenfurt geschickt. Nachdem der dortige Abt ebenfalls wohlwollend über meinen Vetter sprach, habe ich mich entschlossen, Harrad in den Kosch zurückzuholen und ihn selbst in Augenschein zu nehmen. Es ist sicher bald 15 Jahre her, als wir uns zuletzt sahen.“
Anshold verharrte erneut, dann fuhr er fort. „Wir schickten unseren getreuen Vasallen Viburn von Rohenforsten nach Greifenfurt, um Harrad abzuholen, aber auf der Rückreise muss etwas vorgefallen sein. Wir wissen nicht genau was, aber die beiden und ihr Gefolge sind verschwunden. Sie haben Auersbrück nie erreicht. Ich habe Feron von Nadoret bereits angewiesen, die Augen aufzuhalten, aber seine Patrouillen melden derzeit nur eine erhöhte Zahl an Räuberbanden und das, obwohl dem Oger Goro kürzlich der Gar ausgemacht wurde. Es liegt mir am Herzen, nach den beiden zu suchen und ihnen aus der Patsche zu helfen, wenn ihnen etwas zugestoßen sein sollte, aber falls Harrad alle getäuscht haben sollte und nun im Wengenholm mit einer Räuberbande sein Unwesen treibt, muss dem natürlich ein Ende bereitet werden. Habt Ihr mich soweit verstanden?“ Fragend blickte Anshold Halmar an, doch der nickte nur.

Diesmal fuhr Kuniswart vom Eberstamm fort. „Wie der Fürst schon erläutert hat, wissen wir nicht, was passiert ist. Es mag ein Räuberüberfall stattgefunden haben, vielleicht ist die Gruppe auch nur im Schnee vom Weg abgekommen und sitzt nun fest, aber es könnte auch sein, dass Harrad sowohl den Reichs-Großgeheimrat als auch die Praioskirche getäuscht hat und er doch mit Arngrimm unter einer Decke steckt. Falls dem so sein sollte, wäre uns natürlich nicht daran gelegen, dass die Sache publik wird. Bisher weiß ja niemand, dass Harrad sich überhaupt im Kosch aufhält. Ihr werdet also diskret nach ihm suchen und ihm entweder aus der Patsche helfen oder seinen Umtrieben ein Ende bereiten. Es ist dabei äußerst wichtig, dass ihr Stillschweigen bewahrt und den offiziellen Grund Eurer Reise nicht angebt. Am besten wäre wohl ein Deckmantel, wie eine winterliche Jagd.
Halmar hatte die Ausführungen verstanden. Im Anschluss klärten sie einige Fragen und gingen dann auseinander. Ein paar Tage später brach Halmar vom Erlenschloss aus auf, um auf seinem Edlengut Kaisersteg in Oberangbar nach dem Rechten zu sehen. Er hatte von den Anwesenden der nächtlichen Beratung einige Leute empfohlen bekommen und hatte bereits selbst einige Namen im Kopf. Noch vor seiner Abreise hatte er diskrete Nachrichten versandt mit der Bitte, ihn eiligst in Kaisersteg aufzusuchen, denn am 1. Tsa würde er nach Norden reiten, um in aller Stille nach Harrad zu suchen.