Unter dem Schleier - Golgaris Ruf

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Moorbrücker Sumpf, Phex 1043

„Was tust du hier draußen?“, leise trat Hal von Boltansroden neben sie.

„Ich warte auf den Nebel“, wisperte Marbolieb Tempeltreu und blickte in die Dämmerung.

Der Geweihte fröstelte: „Warum?“

„In meinem Traum...“, erwiderte sie leise, „... bin ich von Nebel umgeben.“ Sie schloss ihre Augen. „Er hüllt mich ein.“ Versetzte sich in ihren Traum zurück. „Vollkommen. Gänzlich.“ Hörbar holte sie Atem. „Er ist so dicht. Undurchdringbar.“ Gänsehaut legte sich über sie. „Es gibt sonst nichts, nur diesen Nebel. Diesen Nebel und mich.“ Sanft wiegte sie ihren Kopf von der einen zur anderen Seiten. „Und dann...“ Sie lauschte in die Stille der sich über sie senkenden Nacht hinein. „... dann sind da Schritte. Erst leise, dann lauter und lauter und lauter. Immer lauter.“ Marbolieb hielt inne. In ihrem Kopf da hörte sie die Schritte. „Doch ich kann niemanden sehen. Dabei höre ich sie neben mir. Ihren Atem.“ Sie stockte. „Ich höre ihren Atem. Kann ihn in meinem Nacken spüren.“ Ihre Nackenhaar stellten sich auf. „Ich weiß, sie ist da. Aber...“ Ihre Stimme brach. „... ich kann sie nicht sehen. Wenn ich nach ihr greife...“ Sie reckte ihre Rechte nach vorne, als packte sie etwas, zog sie zurück und öffnete sie wieder „... dann greife ich stets ins Nichts. Sie ist so nah und doch...“ Einen Moment hielt sie inne. „... so fern. Irgendwie unerreichbar.“ Wieder eine Pause. „Doch sie ist da. Ich weiß es. Irgendwo und...“ Sie zuckte mit den Schultern. „... und irgendwie.“

Nebel war aufgezogen. „Und dann…“ Sie wandte ihren Kopf zum Himmel hinauf. „... dann höre ich ihn. Ich höre ihn rufen.“ Zaghaft schüttelt sie ihren Kopf. „Laut und durchdringen sind seine Rufe.“ Sie keuchte. „Dazwischen... Flügelschläge. Mächtige... kraftvolle... Flügelschläge.“ Es fiel ihr zunehmend schwerer Atem zu holen. „Er ist direkt über mir. Er packt nach mir. Er...“ Marbolieb begann zu zittern. Ihre Stimme nur noch ein leises Hauchen: „Könnt Ihr es denn nicht hören?“

„Was?“, fragte der Geweihte mit gedämpfter Stimme.

„Seine Rufe!“, erwiderte die Novizin verängstigt, „Wie er immerzu ruft: Nirgendmeer. Nirgendmeer, Nirgendmeer.

Hal schüttelte langsam seinen Kopf.

„Er versucht mich zu holen, Bruder“, sie begann zu schluchzen, „Er versucht es. Seine Krallen sind in meinen Fleisch. Jeden Tag drückt er sie weiter hinein. Sein Ruf ist in meinem Kopf. Und jeden Tag ist er eindringlicher.“

„Wer?“, wollte Hal behutsam wissen und berührte Marbolieb an ihrer zitternden rechten Hand, „Wer?“

„Golgari! Es ist Golgari“, ihre Stimme brach, „Und er kommt mich holen, Bruder. Doch... doch ich... ich will nicht sterben! Ich bin doch noch... so jung. Viel zu jung. Ich will... will... leben. Leben!“

Dem Geweihten schnürte es die Kehle zu. Er schloss die Novizin in die Arme, doch ihm fehlten die Worte. Oftmals war der Tod ihm nahe gewesen, oftmals hatte er Trauernde und Sterbende begleitet, doch jetzt, jetzt wo es sein direktes Umfeld, seine Familie traf, da war er starr vor Angst. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Sie wusste um die Unausweichlichkeit des Todes. Sie wusste, dass es keine Frage des Alters war. Sie wusste, dass Golgari einen holte, wenn es Zeit war geholt zu werden. Was, wenn nun Marboliebs Zeit gekommen war?

Nebel umfasste sie.