Ifirns Gnade, Firuns Grimm

Aus KoschWiki
Version vom 2. April 2022, 15:40 Uhr von Kunar (D | B) (Textersetzung - „[[Jahr ist::“ durch „[[Briefspieltext mit::“)
(Unterschiede) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschiede) | Nächstjüngere Version → (Unterschiede)
Zur Navigation springen Zur Suche springen


Kk-titelbalken-heroldzwerg.jpg

Ausgabe Nummer 70 - Phex 1044 BF

Ifirns Gnade, Firuns Grimm

Zwei Familienschicksale im tiefsten Winter

WENGENHOLM, Firun 1044 BF. Niemand, der bei Verstand ist, wird ernsthaft daran zweifeln, dass die Götter segnend, helfend oder strafend auf das Leben von uns Sterblichen Einfluss nehmen. Doch warum sie dem einen ihre Hilfe angedeihen lassen und dem anderen nicht, vermögen wir nicht zu deuten.

Es war an einem trüben Tag im tiefsten Firun, als der Loderer Alrich aus der Nähe von Rübfold seine Tochter Hamwide in den Wald schickte, um Klaubholz zu sammeln, denn in der Kate war es bitterkalt. Also schnallte sich das Mädchen die Kiepe auf den schmalen Rücken und stapfte fort in den Wald. Sie war noch nicht wieder heimgekehrt, als es zu schneien anfing, und zwar so dicht und heftig, dass man die Hand vor Augen nicht sah. In Sorge machten sich die Eltern auf und liefen zum üblichen, kaum mehr erkennbaren Holzweg und riefen nach Hamwide, aber vergebens. Das Kind schien sich verirrt zu haben in dem wilden Treiben, und es blieb den verzweifelten Leuten nichts anderes übrig, als heimzukehren und zu Ifirn zu beten, dass sie ihren grimmen Vater besänftigen möge. Wie oft hat man dergleichen schon gebetet, nur leider umsonst. Doch als am anderen Morgen – nach einer schlimmen, ja furchtbaren Nacht für die arme Familie – die Praiosscheibe wieder aufging mit ihren goldenen, wärmenden Strahlen, da tauchte am Waldesrand die schlanke Gestalt des Mädchens auf. Das Kind war nicht nur am Leben, sondern auch gesund und munter. Wie konnte das sein?

Nun, wenn man den Worten der jungen Hamwide glauben mag – und wir sehen keinen Grund, das nicht zu tun – dann hatte der plötzliche Schneefall sie im Walde überrascht. Und weil sie den Weg nach Hause nicht mehr finden konnte, betete sie zur Milden Herrin, wie die Eltern es sie gelehrt hatten. Auf einmal aber sah sie vor sich eine Lichtung, und mitten darin eine sprudelnde Quelle, aus welcher es dampfte wie aus Mutters Suppentopf. Und ringsumher war weder Schnee noch Eis, sondern frisches, grünes Gras und bunte Blumen. Zuerst stand sie nur da und staunte, dann tauchte sie die Fingerspitzen in das dampfende Nass, und als sie merkte, dass es warm war wie das Wasser im rohalstäglichen Waschtrog, zog sie rasch den Mantel und die Kleider aus und legte sich hinein in die köstliche Quelle. Und verbrachte dort die ganze Nacht, die glücklichste in ihrem Leben, über sich die funkelnden Sterne.

Als die Eltern das hörten, konnten sie es kaum glauben, und sie wollten sich zur Quelle führen lassen, um der Göttin ein Opfer darzubringen. Doch so leicht der Heimweg für das Kind gewesen war, so unmöglich war es nun, die wundersame Stätte wiederzufinden.

Ganz anders erging es Torben Wackernagel, einem armen Manne aus der gleichen Gegend. Es war derselbe Abend und dieselbe Nacht, da auch er nicht nach Hause kam, sondern im Walde blieb, als es zu schneien begann. Für seine Rückkehr wurde in der engen Kate nicht minder fromm gebetet. Doch als am anderen Morgen die Praiosscheibe über den Bäumen aufging, da trat er nicht aus dem Waldessaum auf die Lichtung, sondern er blieb verschwunden. Und blieb es viele Tage und Wochen hindurch, bis milderes Wetter den Schnee zum Tauen brachte, und da fand man ihn, nur eine halbe Meile von der Kate entfernt als eine Leiche, steif und starr wie ein Stecken. Die Firunskälte hatte seinen Leib erhalten, die Tiere des Waldes hatten ihn nicht angerührt, und auch sonst war keine Wunde zu erkennen. Niemand konnte sich erklären, warum der erfahrene Mann den Weg nach Hause nicht gefunden hatte – und weshalb die Milde Göttin zwar die kleine Hamwide, aber nicht ihn gerettet hatte.

Ohne den Vater und Gatten erging es der Familie schlimm. Die Frau, schon vorher schwach und kränklich, rafften Gram und Not und Kummer dahin, die Kinder, nicht alt genug, um selbst für sich zu sorgen, gab man zu anderen Leuten: Den ältesten Sohn nahm ein Bauer aus der Gegend als Knecht auf seinen Hof; der zweite Bube kam in die Obhut des Traviatempels; die Jüngste aber, ein kleines Mädchen von fünf Jahren, nahm der Loderer Alrich aus Dankbarkeit und Mitleid bei sich auf an Kindes Statt.

Karolus Linneger