Graf Orsinos langer Schatten - Jemanden einen Schrecken einzujagen, oder leichter gesagt als getan

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Am Rand des Baduarforstes bei Beilklamm, Mitte Boron 1041

„Flieg, Falke!“ Beinahe zärtlich rief Bolzer dem Jagdvogel seiner Mutter hinterher, als sich dieser elegant in die Lüfte erhob. Anghild von Entensteg musste lächeln. Sie genoss die neuerliche Anwesenheit ihres Sohnes sehr und konnte nicht anders, als sich ein weiteres Mal einzugestehen, dass sie stolz auf ihn war. Er hatte eine wirklich gute Erziehung in Weiden genossen und verhielt sich in jeder Hinsicht ritterlich.

Anghild freute sich über die Ablenkung, die ihr die Jagd von den Sorgen der letzten Tage bot. Hier draußen fühlte sie sich, als könnte sie endlich wieder frei atmen. Ihr Gatte Eberhelm war derweil einige Tage in Angbar – vielleicht, um in dem Trubel der Stadt auf andere Gedanken zu kommen. Wer konnte es ihm verdenken? Sollte er doch richtig über die Stränge schlagen, wenn ihn das wieder beruhigte.

Was geschehen war, war geschehen und ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Sie war die Geliebte Graf Orsinos gewesen – vor ihrer arrangierten Hochzeit mit dem Treublatter, der fünf Götterläufe jünger war als sie und damals erst siebzehn Sommer zählte. War es denn so ein Frevel, von einem charismatischen Mann begehrt zu werden? Sie hatte sich nach ihrer Heirat den Geboten Travias gefügt und das Verhältnis schweren Herzens beendet.

Ihr Sohn riss sie aus ihren Gedanken. „Schau nur, Mutter!“ Bolzer strahlte sie an und deutete auf den Falken. Er war ein guter Junge, keiner von diesen berechnenden und hinterlistigen Treublatts. Sie würde ihm bald reinen Wein einschenken müssen. Ansonsten lief sie Gefahr, dass er von einem wichtigtuerischen Bediensteten erfahren würde, wer allem Anschein nach sein wahrer Vater gewesen war. Für dieses schwierige Gespräch wollte sie Kraft sammeln. Die Zeit mit Bolzer schien so unbeschwert…

Da! Der Falke stieß herab! Sie trieben ihre Pferde an, um zu der Stelle zu gelangen, an der der Jagdvogel offensichtlich Beute gemacht hatte. Nach kurzer Zeit zügelten sie ihre verschwitzen Pferde. Anghild sprang aus dem Sattel und hob den Hasen empor, den ihr Falke geschlagen hatte. „Nicht schlecht!“, rief ihr Sohn, „der macht sich sicher gut in der Suppe heute abend.“ Anghild nickte und wollte sich gerade wieder auf ihr Pferd schwingen, als sie einiger Reiter gewahr wurde, die aus dem kahlen Herbstwald hervorritten. Anghild erkannte das Wappen derer von Alrichsbaum. Ferk von Alrichsbaum war ein Freund ihres Mannes, aber diese Reiter sahen nicht aus, als wären sie an einem freundschaftlichen Besuch interessiert. Sie waren voll gerüstet, hatten ihre Visiere geschlossen und trugen Schwerter, Äxte und geladene Armbrüste in ihren Händen. Was ging hier nur vor? Es sah ganz nach einem Überfall aus! Weiterer Hufschlag unterschstrich ihre Befürchtung, doch bei der zweiten Gruppe Bewaffneter erkannte Anghild ihren Gatten.

„ANGHILD!“, schrie Eberhelm ihr voll Zorn zu. „Du hast mich betrogen! Du treuloses Weib wolltest mir einen Bastard als Erben unterjubeln! Doch dafür wird Du bezahlen!“ Er wandte sich kurzerhand an die Söldner. „Auf sie, Leute!“ Anghild reagierte blitzschnell, schwang sich entschlossen auf ihr Pferd und trieb ihm die Sporen in die Seite. „FLIEH!“, schrie sie ihrem Sohn zu. Bolzer reagierte für einen Augenblick nicht. Er verstand nicht, was los war, auch wenn ihm ob des bewaffneten Auftritts doch mulmig zumute war. Als er jedoch sah, wie die Armbrustschützen auf sie anlegten, zögerte auch er nicht mehr und gab seinem Pferd ebenfalls die Sporen. Zwei Armbrustbolzen flogen von den Alrichsbaumern kommend dicht an ihm vorbei und ein weiterer traf seine Mutter in die Seite. „Doch nicht auf sie schießen! Ich will sie lebend!“, hörte er seinen Vater brüllen. Weitere Bolzen flogen ihnen hinterher, zielten diesmal aber tiefer auf ihre Pferde. Einer streifte Bolzers Pferd an der Flanke und ließ es kurz straucheln, doch auch das Pferd hatte erkannt, dass es in höchster Gefahr schwebte, und beschleunigte seinen Galopp noch einmal. Die beiden Reiter jagten dem Waldrand entgegen, brachen dann in das Unterholz ein und verschwanden schließlich im Wald. Einige der Söldner setzten ihnen nach, aber der Abstand war zu groß, um die Geflohenen direkt zu stellen, denn die Armbrustschützen hatten aus sicherer Entfernung geschossen und keinen Nahkampf erwartet.

Mit hochrotem Kopf wandte sich Eberhelm an den Söldner neben sich. „Ja, seid Ihr denn von Sinnen? Ich hatte Euch doch vorher eingeweiht, dass wir den Angriff auf ihr Leben nur spielen!“ „Wir sind Söldner. Wir folgen immer Eurem letzten Befehl, hoher Herr, ohne unnötige Fragen zu stellen.“, erwiderte Moribert Siebenschröter, ein Glatzkopf mit Stoppelbart und Tellerhelm. Ohne die Uniform hätte er auch ein Strauchdieb oder Wegelagerer sein können. Eberhelm erkannte, dass er einen Fehler gemacht und das nicht bedacht hatte. Er zügelte langsam seinen Zorn. „Ich wollte ihnen doch nur einen gehörigen Schrecken einjagen.“ „Das ist Euch gelungen, hoher Herr.“, nickte Moribert anerkennend. „Ja, aber wir wollten sie festsetzen. Jetzt sind sie entkommen!“ „Abwarten, hoher Herr. Ein halbes Dutzend Reiter ist hinter ihnen her. Wenn die bei Einbruch der Dämmerung nicht mit ihnen zurück sind, ja, dann sind sie uns entkommen.“ „Und bis dahin können wir nichts weiter tun...“, gestand sich Eberhelm resignierend ein. „Also gut, zurück zum Gut!“

Auf Gut Beilklamm waren die Bediensteten besorgt, als nicht Anghild und Bolzer zurückkehrten, sondern Eberhelm in Begleitung von fremdem Waffenvolk. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten Eberhelm verkündete kurz und knapp, dass seine Frau und Bolzer geflohen seien. Govena eröffnet er, dass er sie als Erbin eingesetzt habe. Diese verstand nicht, was das alles zu bedeuten hatte, und bedankte sich kleinlaut für die Ehre, das Lehen dereinst übernehmen zu dürfen. Das erhellte Eberhelms Laune ein wenig. Die gute Govena wusste, was sich gehörte!

Während die Dienerschaft sich eiligst darum bemühte, die Söldner zu versorgen – denn wenn solche Leute hungrig und durstig waren, waren sie unberechenbar – beriet sich Eberhelm mit Ferk von Alrichsbaum. Dieser sah die Lage deutlich entspannter als der Treublatter. „Was soll denn groß passieren? Sieh‘s mal so: Entweder wir fangen sie noch. Dann machen wir weiter wie geplant. Oder sie verlaufen sich im Wald und kommen nicht wieder. Dann ist das Problem sogar elegant gelöst.“ „Elegant gelöst… seine eigene Frau in den Tod gehetzt zu haben.“ „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um! Das ist nun einmal das Risiko, wenn man treulos gegenüber seinem angetrauten Gatten handelt.“ Auf den Hinweis sprang Eberhelm an und seine Besorgnis wurde schwächer. „Ich würde ihr dennoch wünschen, vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden.“ „Wenn sie vor dem eigenen Ehemann in die Wildnis flieht und dort stirbt, dann war eben der Herr Firun der Richter! Und ein sehr strenger sogar, ganz, wie Du es wolltest.“ „Ja, aber das wird wohl kaum vor einem gräflichen Gericht Bestand haben.“ Eberhelm dachte nun wieder daran, wie er selbst darstehen würde, doch auch für diesen Zweifel hatte Ferk eine Antwort. „Anghilds Flucht ist ein Schuldeingeständnis. Es gibt keine Zeugen der Flucht außer meinen eigenen Leuten, und die werden ganz nach Bezahlung aussagen, dass die beiden bei dem Versuch ihrer Festsetzung ohne Not geflohen sind.“

„Und wenn sie doch entkommen?“, sprach Eberhelm nun die dritte Möglichkeit an. „Ich habe bereits Leute nach Mistelstein und Heimthal geschickt. Sollten die beiden dort auftauchen, wissen wir sehr bald Bescheid. Außerdem wird es dann öffentlich, ganz so, wie Du es willst, und wir können sie festsetzen. Überlegen wir weiter. Wo könnten sie noch hingehen, wenn sie aus dem Wald herauskommen?“ „Zu Anghilds Familie auf Burg Entensteg. Das liegt allerdings auf der anderen Seite des Forstes.“ Sobald er das gehört hatte, stellte Ferk seinen Bierkrug ab, ging zur Tür und rief nach einem gewissen Asgrimm. Nach sehr kurzer Zeit trat ein ruhiger junger Kerl Anfang 20 mit braunen Locken ein. „Hohe Herren?“ Ferk nickte Eberhelm zufrieden zu und deutete mit dem Kopf auf den neu Hinzugekommenen. „Das ist Asgrimm Angbarer. Der Bursche reitet wie der Dämon, wenn‘s drauf ankommt.“ Nun wandte sich Ferk an Asgrimm. „Stell einen Spähtrupp zusammen und mach Dich reisefertig. Ihr werdet ein paar Tage draußen unterwegs sein.“ „Wie Ihr befiehlt, hoher Herr.“ Asgrimm verneigte sich leicht, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Kammer. Ferk erläuterte seine Absichten. „Die sind flink und wendig und werden in gewöhnlicher Reisekleidung nicht weiter auffallen. Für einen Kampf auf Entensteger Boden mit deren Leuten ist das natürlich nichts, aber den sollten wir ohnehin tunlichst vermeiden. Der Spähtrupp wird also entweder Anghild und Bolzer auf dem Weg ergreifen oder uns benachrichtigen, sollten sich die zwei in die Arme der von Entenstegs flüchten. Wir können unsere Späher nicht überall haben, aber vielleicht schaffen wir es sogar, sie vorher abzufangen.“ Eberhelm nickte. Ferk erhob seinen Krug. „Nach wie vor kannst Du Deine Gattin vors Gericht zerren. Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.“ Nur dass aus Liebe hier Krieg wurde, das hatte er nicht gewollt, dachte sich Eberhelm...