Unter dem Schleier - Verblassende Erinnerung

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Burg Rabenwacht, 27. Ingerimm 1042

Sie war mehrfach bei mir“, hob die Geweihte an und durchbrach die Stille, „Hat mich ins Vertrauen gezogen. Das erste mal kurz nach meiner Weihe. Daran kann ich mich gut erinnern. Sie war so jung. Und so schön...“ Sie hielt kurz inne. „Sie kam den ganzen langen Weg nach Angbar um mit mir zu sprechen. Um sich mir anzuvertrauen. Ach, Eira, wie sie über Dich erzählte! So voller reiner unschuldiger Liebe. Voller Liebe...“

Die Junkerin setzte sich auf, wischte sich die Tränen aus den Augen: „Sie... war bei Dir?“

„Nicht nur einmal, Schwester. Nicht nur einmal“, antwortet sie da, „Sie besuchte mich ein um das andere Mal. Erzählte von ihren Ängsten und Sorgen. Berichtet mir von Dir. Sie sprach nur gut über Dich. Immerzu.“

„Ihr Herz war rein.“

„Das war es. So rein und vollkommen, wie es nur wenige dort draußen gibt“, mehr sagte sie nicht. Es war noch nicht an der Zeit.

„Als ich sie das erste Mal sah, da war es um mich geschehen“, gestand die Junkerin und erinnert sich mit einem wohligen Schauder an jenen Augenblick zurück, „Da war sofort ein Zauber zwischen uns. Ein magisches Band. Und es war stark. Wie sie mich angesehen hat!“ Gänsehaut hatte sich über ihren ganzen Körper ausgebreitet. „Ihr Blick! Ich werde ihn nie vergessen. Diese Augen. Diese Augen! Ihre Augen...“

„... wie die eines Rehs“, endete Líadáin, „So dunkel und geheimnisumwittert. Voller Rätsel und Mysterien. Und so voller Ängste und Zweifel.“

„Die Menschen...“, Eiras Stimme war nicht mehr als ein leises Wispern, „... fürchteten sich vor ihr. Sie sagte, sie hätte... sie hätte... das zweite Gesicht.“

„Das hatte sie“, bestätigte die Geweihte leise und nickte langsam, „Sie hatte das zweite Gesicht.“

„Und deswegen fürchteten sie sie. Sie glaubte, sie brächte Unglück...“

„Sie hat niemandem Unglück gebracht!“, stellte ihre Schwester da klar, „Niemanden außer sich selbst. Doch ganz gewiss, was auch immer sie gesehen, geahnt oder gewusst hat, es war nie an ihr, den Lauf der Dinge zu ändern. Sie war dazu verdammt zuzusehen...“ Der Blick der Geweihten traf den ihrer Schwester.

„Manchmal, da hat sie sich neben mir in den Schlaf geweint. Ich konnte ihr in ihrem Schmerz nicht helfen“, erinnerte sich die Ritterin, „Manchmal war sie so voller Mut und Hoffnung und dann im nächsten Augenblick erfüllten sie nur noch Kummer und Leid.“

Líadáin nickte mitfühlend.

„Ich war so hilflos. Ich habe sie doch geliebt! So sehr. Warum konnte ich ihr dann nicht helfen? Warum?“

„Darauf weiß auch ich keine Antwort, blutige Distel. Ich kann Dir nur das sagen, was ich Sanja damals geantwortet habe, als sie mich fragte, warum die Götter ausgerechnet ihr dieses Schicksal zugedacht hatten: Hab Vertrauen in die Götter, denn sie haben Dir Dein Leben aus einem bestimmten Grund geschenkt.“

Eira lachte kehlig: „Welch warmen Worte...“

„Manchmal sind Worte das einzige, was uns bleibt. Neben unserer verblassenden Erinnerung.“

Demütig senkte die Junkerin ihr Haupt, als wollte sie zustimmen.