Ankunft in Moorbrück - Zwölf Steine - Der finale Siedlungsplatz

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1032 BF, Moorbrück (Baronie)

Nachdem die Gruppe eine neblige Senke durchquert hatte, die sich wie ein Graben durch das Land zu ziehen schien, erklomm sie einen letzten Hang. Sie hatte Mühe, denn der Boden war glitschig und steil ... doch mit gemeinsamer Hilfe gelang es, die auf der anderen Seite des Grabens liegende, buschbewachsene Ebene zu erreichen.
Erneut dämmerte der Abend, die runde Scheibe des vollen Madamals erschien am Horizont, während das Auge des Praios versank und die Szene in goldgelbes Licht tauchte. Roban sah in der Ferne die sich abzeichnenden Umrisse einen Geodenkreises. Ein Schauer zog unheilvoll über seinen Rücken. Nebelschwaden quollen aus der Senke und zogen wie zarte Schleier über den Boden.
„Dies is’ er wohl – der sechste und letzte Platz, werte Ritter“, gab Bolzer kund.
„Ein Hexenkreis! Wunderbar! Einladend wie ein offenes Drachenmaul!“ murrte Roban, dem die Nähe dieses möglicherweise magischen Ortes wohl nicht behagte.
„Geodenkreis!“ korrigierte Boromil vom Kargen Land.
„Hexenkreise bestehen üblicherweise aus Pilzen!“
„Aha!“ sagte Roban, offenbar wenig beruhigt von dieser Erklärung.
Der Ritter vom Kargen Land ließ den Blick schweifen. Schwer abzuschätzen, ob der Geodenkreis Hilfe, Hindernis oder unwichtig sein würde. Naturverbundene Zauberer waren meistens Eigenbrötler und pflegten sich nicht besonders um irgendwelche Lehensgrenzen zu kümmern. Eine neue Siedlung mochte als "Einmischung in das von ihnen behütete Land" interpretiert werden. Allerdings war nicht klar, ob dieser Geodenkreis regelmäßig besucht wurde.
Er dachte weiter. Siedlungsort VI war von den anderen am weitesten entfernt. Wer hier siedeln wollte, musste Mumm in den Knochen haben. Das hatte Edelbrecht, der sich bereits mehrfach für diesen Siedlungsplatz ausgesprochen hatte, durchaus. Davon war Boromil überzeugt.
Rainfried blickte über den letzten Siedlungsraum, in Gedanken die Höhe der Ebene abschätzend. Soweit es die Nebelfetzen zuließen konnte er erkennen, dass es sich wohl um ein leicht erhöhtes Plateau handelte. Ob nun Hexen- oder Geodenkreis, es hatte wohl einen Grund, dass diese Kultstätte ausgerechnet hier errichtet wurde.
Die Erfahrung des Grimsauers mit Zwergen, noch dazu mit deren Geoden, was auch immer sie sein mochten, war sehr gering. Die mit Hexen war noch geringer. Er konnte sich nicht erinnern, Zeit seines Lebens einer begegnet zu sein. Und wenn, dann würde man sich schon mit ihnen arrangieren können.
Seine Präferenz für den vierten Siedlungsplatz hatte er bereits mitgeteilt, doch auf einem Bein zu stehen wäre töricht. Auch wenn diese Stelle bei weitem nicht so gut geeignet schien, wie die südlichere mit den Hängen, so konnte er hier doch ebenfalls Potential erkennen. Es würde deutlich mühsamer werden, Hügel müssten aufgeschüttet werden, der Graben am Rand deutlich erhöht, wollte er noch erleben, dass hier aus den Trauben Wein gekeltert würde, und nicht nur ein saurer, muffiger Essig. Doch es wäre möglich.
„Nun denn, Geoden sind immer noch Zwerge“, knurrte Edelbrecht von Borking, der ein Zittern seiner Stimme nicht ganz unterdrücken konnte, „und die sind mir immer noch erheblich lieber als menschliche Zauberer. Mit dem Beistand Firuns und Ingerimms wird man hier gewiss hervorragend siedeln können.“
Nachdem sich die neuen Herren von Moorbrück umgesehen hatten, traten sie wieder zusammen. Einige Beerensträucher, fester Heideboden, der eigentliche Sumpf begann in etwa einer halben Meile westlich, eine halbwegs gute Übersicht - nicht der schlechteste aller Standorte, wie es schien. Nun galt es abzuwägen.
Auch Vogt Morwald Gerling sah man seine Erleichterung an, endlich den abschließenden Platz erreicht zu haben. Tief einatmend ging er einmal auf und ab und stellte sich dann auf einen kleinen Findling am Rande des Platzes.
„So, meine hohen Herren! Ihr habt alle möglichen Siedlungsplätze in Augenschein genommen. Jeder Platz hat seine Tücken, doch jeder hat auch seine Vorzüge, die es zu nutzen gilt. Nun, aber ist es an der Zeit eine bedeutsame Entscheidung zu treffen.“
Gerling brach einen Ast von einem neben ihm stehenden Strauch und begann die Bosparanischen Ziffern von eins bis sechs in einem Kreis in den Sand zu schreiben. Dann band er ein kleines Säckchen los, das er die ganze Zeit an seinem Gürtel mit sich geführt hatte. Zwölf kleine runde Scheiben, ähnlich wie Spielsteine, fielen in seine Hand, als er den Inhalt ausschüttete. Sie waren wohl von Gerlings Sturz ins Moor schmutzig geworden – doch auf jeweils einer Seite waren die Wappen der sechs Ritter zu erkennen, die andere Seite war dagegen leer und grau. Nach und nach verteilte er jeweils zwei Steine an die Ritter, auf jedem das eigene Wappenbild – von der güldenen Faust der Grobhands von Koschtal bis zum Borkenbär des Borkingers, wobei er das weitere Vorgehen weiter erläuterte.
„Mit diesen Steinen markiert jeder Ritter die ihm zusagenden Standorte. Doch...“, Gerling blickte den Rittern eindringlich in die Augen, „...überlegt gut und wägt weise, denn diese Steine werden euer weiteres Schicksal, und so die Götter wollen, das Eurer Nachkommen, Eurer Siedler und deren Nachkommen besiegeln!“
Einige der Ritter wogen die Steine in ihrer Hand und nickten.
„Weil diese Entscheidung so bedeutsam ist, will ich Euch diese Nacht zum sorgsamen abwägen und entscheiden gewähren. Die Steine, die morgen früh beim Aufgang der Sonne auf den Zahlen liegen, werden als Euer Willen gewertet.“
Ritter Edelbrecht trat vor.
„Was, wenn mehrere sich für einen Standort entscheiden?“
Vogt Gerlings Mundwinkel zuckte.
„Nun, dann werden Wir an des Fürsten statt entscheiden müssen.“
In Edelbrechts Blick war die Kälte Morwald Gerling gegenüber zurückgekehrt, doch dieser ergänzte, scheinbar ohne darauf zu achten:
„Jedem ist hoffentlich klar, dass es keine Garantie dafür gibt, dass man seinen Wunschplatz bekommt. Daher rate ich jedem dazu, allzu feste Vorstellungen zu öffnen und mit dem Planen erst nach der Vergabe morgen früh zu warten...“
„Letztlich sollte die Entscheidung nach der Götter Willen geschehen!“
Vogt Gerlings Rede wurde von Perainfried unterbrochen, der nun gemeinsam mit Madalein in die Mitte des Kreises trat.
„Darum würden wir die Steine und den Zahlenkreis gerne segnen, auf dass die Zwölfe diese folgenschwere Entscheidung mit Wohlwollen und ihrer Gunst begleiten und über den gerechten Ausgang wachen.“
Morwalds starrte Perainfried kurz mit überrascht geweiteten Augen an, dann räusperte er sich, lächelte und machte für die Geweihten Platz.
„Natürlich, Euer Gnaden! Eine vortreffliche Idee.“
Nach kurzer Zwiesprache der beiden Geweihten, bat Bruder Perainfried alle Ritter, sowie den Vogt zu sich.
„Wir haben und für den Weisheitssegen unserer Göttlichen Schwester Hesinde entschieden, er wird den Herren ihre Entscheidung erleichtern und Manipulationen verhindern. Bitte stellt euch in einem Halbkreis von uns beiden auf.“
Nachdem die Ritter Bruder Perainfrieds Aufforderung gefolgt waren, traten Madalein und er Hand in Hand vor den Halbkreis. Bruder Perainfried erhob die Stimme.
„Herrin Peraine“ - „Herrin Rahja" - “Herrin Hesinde und ihr anderen Himmlischen: Schenkt diesen Sterblichen die Gabe, die Wahrheit zu erkennen, die Weisheit zu erleben und die Irrtümer des sterblichen Geistes hinter sich zu lassen, auf dass ihnen die Herrlichkeit eurer göttlichen Ordnung offenbar werde.“
Dann traten die beiden Geweihten gemeinsam vor jeden der Anwesenden und berührten diese gemeinsam an der Schläfe, Madalein küsste danach jeden auf die Stirn.
Während dieser feierlichen Einstimmung war das Praiosmal vollends am Horizont versunken, und man begann die Lager zu errichten. Vogt Gerling betrachtete noch eine Weile die sternumstrahlte silberne Scheibe des Madamals, das sein silbriges Licht auf die Szenerie warf. Er war gespannt, wie sich die Ritter verhalten würden ... welche Ritter würden sich miteinander absprechen, welche für sich selbst entscheiden, welche eine List anwenden, welche ihre Steine verdeckt oder offen platzieren ... zufrieden schmunzelnd warf er einen Blick auf die Lagerstatt der Ritter und den Zahlenkreis, der unberührt im Mondschein glomm ... noch unberührt.
Roban ließ einen seiner Steine über die Fingerknöchel wandern, während er mit geschürzten Lippen und qualmender Pfeife grübelte. In Gedanken ging er die Standorte noch einmal durch:
da waren die Ruinen an Standort eins, also jede Menge Baumaterial vor Ort, allerdings mit dem Gerücht eines alten Fluches – von unleidigem Viehzeug, dass sich auch nach dem Ableben der Riesenamöbe noch dort herumtreiben mochte mal ganz abgesehen.
Standort zwei mit seinem lehmigen Boden, in dem Reto seine Kortaffeln – oder wie hießen die Dinger aus dem Bornland noch mal? – anpflanzen wollte. Fruchtbarer Boden, aber im Gelände offen wie ein Scheunentor, so dass man besondere Mühe bei der Befestigung der Siedlung würde investieren müssen.
Dann Standort drei, der Hügel mitten im Sumpf, leicht zu verteidigen, aber offenbar so fruchtbar wie Koschbasalt. Naja, ein paar Ziegen würde man wohl halten können, und wenn man dem Sumpf trockenen Grund abtrotzte...und mit den vermaledeiten Irrlichtern würde man auch irgendwie fertig werden, und wenn er in Koschtal ein paar Stein Basalt beschaffte und sie im Umland verteilte, um alles magische Gesocks fern zu halten.
Standort Vier, für den sich Rainfried von Grimsau so begeisterte, die Hügel in der Nähe des alten Boronangers, der Roban nach wie vor Zahnschmerzen machte, auch wenn sie keine Untoten gesehen hatten. Offenbar geeignet für Ackerbau, und vermutlich auch gut zu verteidigen, aber die Nähe des Totenfeldes und Narehals Wald jagte ihm noch jetzt Schauer über den Rücken.
Standort Fünf, die Anhöhe, die direkt an den Sumpf und Narehals Wald grenzte. Nein, in der Nähe dieses merkwürdigen Waldes wollte er nicht hausen, zu sehr erinnerte er sich an das Gefühl einer unsichtbaren Bedrohung, die davon ausging.
Und jetzt Standort sechs...
Die Entscheidung wog schwer, denn er entschied nicht nur für sich allein, sondern für andere Menschen, die er bislang noch nicht einmal kannte. Nicht das erste Mal, dass er über das Leben anderer abzuwägen hatte – die letzten derartigen Entscheidungen hatte er in Tobrien fällen müssen, und manches Mal hatten andere seine Wahl mit ihrem Leben bezahlt.
Für einige Momente schien er ihre Gesichter in den Flammen des kleinen Feuers zu sehen – der stoppelbärtige Rauert, die dickliche Jette und Firutin, der Bauernsohn mit den traurigen Augen. Wütend über sich selbst schüttelte er die Traumgesichter ab. Hier und jetzt musste er entscheiden, ungeachtet der Vergangenheit.
Er warf einen Blick hinauf auf den nur teilweise bewölkten Himmel. Einige Sterne blinkten im Schwarz, als wollten sie ihn auslachen. Oder anlachen...ein Zeichen Phexens? Sollte er sich mehr auf sein Glück verlassen, anstatt lange zu überlegen?
Mit einem Ruck erhob er sich, ging starren Blickes hinüber zum Zahlenkreis, verharrte noch einen Moment vor diesen einfachen Zahlen, die über Tod und Leben entscheiden konnten...noch einmal blickte er zum Himmel hinauf. Die Sterne glänzten, als würden sie voll Spannung warten, was als nächstes geschah.
„Scheiß der Ork drauf!“, knurrte Roban kopfschüttelnd und legte seine Steine ab.
Für einen Moment zögerte er noch – sollte er das Wappen verdecken, um den heimlichen Phex zu ehren? Andererseits mochte Phex keine dummen Leute, und es war dumm, zu glauben, dass der nächste Ritter sich nicht an zwei Fingern abzählen konnte, wer diese Steine platziert hatte. Außerdem schätzte Rondra keine Heimlichkeit, und er ebenfalls nicht, also legte er die Wappen nach oben. Zwei geballte Fäuste deuteten auf seine Wahl, als wollten sie den Sumpf zum Zweikampf fordern.
Standort 1 oder 3 sollte es sein, die Burgruine oder der Hügel der Irrlichter. Alles weitere legte er in Phexens Hand – und würde beten, dass der Listige ihn mit genügend Glück und Geschick segnete, um seine Siedler nicht ihr eigenes Grab errichten zu lassen.
Boromil blickte Roban hinterher. Das war ein überzeugender Auftritt! Der wusste, was er wollte. Er selbst wäre lieber zuerst zu Burg Birkendamm zurückgekehrt und hätte sich alles in Ruhe überlegt.
Als Roban zurück kehrte, bemerkte Boromil, wie dieser tief durchatmete – offenbar war ihm die Wahl doch nicht so leicht gefallen, wie ihre Schnelligkeit es hatte vermuten lassen, oder er zweifelte schon jetzt an der Klugheit seines hastigen Entschlusses. Schnelle Entschlüsse waren eben nicht immer auch weise.
Die Wahlmethode des Vogtes war schlau. So konnte niemand allein durch langes Zureden oder Streiten einen Vorteil für sich herausholen. Auch waren damit alle bisherigen Plädoyers neutralisiert.
Unwillkürlich hatte Boromil, während er nachdachte, einen seiner Steine in die rechte Hand genommen und den Arm bereits ausgestreckt. Erst jetzt bemerkte er, dass er ihn instinktiv in Richtung des Siedlungsplatzes V bewegt hatte. Als er feststellte, dass er den Stein nur wenige Finger über den Boden hielt, dachte er sich: So sei es! Nun legte er ihn ab, das Wappen offen sichtbar.
Den anderen Stein jedoch verwahrte er noch. Er hatte eine Nacht, um zu überlegen, welcher andere Siedlungsplatz ihm außerdem besonders zusagte. Jetzt war er Robans Beispiel gefolgt und hatte schnell entschieden, hatte aber noch Zeit, um nachzudenken. Entschlossen auftreten und dennoch abwägen - wenn das doch immer möglich wäre im Leben!
Reto hatte die ganze Zeit bedächtig in Sichtweite des Zahlenkreises gestanden. Was sollte er von der Entscheidung des Vogtes, das Auswahlverfahren betreffend denken? So war es gar nicht möglich, einen Fürsprecher für seinen Lieblingsstandort zu bekommen. Man konnte nur für sich selbst stimmen. Doch da kam ihm eine Idee.
„Verzeiht Vogt Gerling, ist es gestattet die Wappensteine untereinander zu tauschen?“
Dabei ging er langsam auf Rainfried zu und blickte dabei mit einer entschuldigenden Geste zu Roban. Warum hatte dieser auch so schnell seine Steine platzieren müssen?
Roban musste unwillkürlich grinsen, als er Retos Frage vernahm.
„Herre Phex, ich hoffe, du weißt, was du tust!“ murmelte er in Richtung der Sterne – ganz offenbar war die Sache dem listigen Gott noch nicht spannend genug!
Von Vogt Gerling, der in einiger Entfernung in seinem Lager lag, kam keine Antwort. Anscheinend war er bereits eingeschlafen, was nach den Tagen der Wanderschaft kein Wunder war.
‚Nun, das dürfte wohl heißen, dass es zumindest kein ausdrückliches Verbot gibt!’, dachte sich Reto und beschleunigte die Schritte zum Grimsauer.
Rainfried blickte erstaunt in das ernste Gesicht des Ritters von Tarnelfurt.
"Euer Hochgeboren Gerling, auch ich unterstütze den Vorschlag Retos."
Ein Lächeln der Erkenntnis kam über seine Lippen.
"Wenn ihr damit einverstanden wärt, Reto, es wäre mir eine Ehre und Freude, einen eurer Steine durch einen der meinen zu ersetzen."
Der Grimsauer legte einen seiner Steine auf die Zahl IV, und hielt dem Tarnelfurter augenzwinkernd den zweiten Siegelstein entgegen, ohne auf eine Antwort des schlafenden Vogtes zu warten.
Dieser grummelte kurz vernehmlich und drehte sich auf die andere Seite. Roban blickte zum schlafenden hinüber.
„Er lächelt selig. Scheint einverstanden zu sein!“ verkündete er, und Reto nahm den Wappenstein des Grimsauers entgegen.
„Wie ich bereits an Standort vier kund getan habe, unterstütze ich eure Wahl des Siedlungsplatzes,“ er nahm den Stein des Grimsauers und legte ihn auf die Zahl IV, wo nun 2 Steine des Grimsaueres lagen. Dann reichte er dem Grimsauer einen seiner Wappensteine.
„Und ich hoffe, wir werden uns auch nach dieser Wahl zu unterstützen wissen.“
Reto legte seinen verbliebenen Wappenstein auf die Zahl V.
„Das Motto meines Hauses, des ‚Alles oder Nichts’ wäre auch hier nicht fehl am Platze“ sagte Edelbrecht, so laut, dass sich für einen Moment alle nach ihm umdrehten, und wie zur Bestätigung grunzte der Vogt im Schlaf zufrieden.
„Demzufolge legte ich meine beiden Steine auf Standort VI ab.“
Sofort ließ der Borkinger bei diesen Worten einen Borkenbär verzierten Stein fallen.
„Da es aber in unser aller Interesse ist, dass wir uns Nachbarn wählen, mit denen wir gütlich auskommen werden, wäre es sicherlich falsch, ohne Blick über die Nesse zu wählen.“
Edelbrecht ging ernsten Gesichts auf Boromil zu und legte ihm seinen verbleibenden Wappenstein in die Rechte.
„Entscheide du, Boromil, und wisse, dass ich mich, egal wohin es dich verschlägt, an deiner Seite wieder finden möchte!“
Ohne sich weiter um die anderen zu kümmern, drehte er sich daraufhin um und verließ den erleuchteten Rastplatz für eine Weile.
Boromil war sehr aufgewühlt durch diese Wendung. Nicht nur dieser Vertrauensbeweis und diese Nähe des für die anderen oft verschlossenen von Borking, auch die daraus erwachsende doppelte Verantwortung erzeugten eine gewisse Unruhe in ihm. Ein klarer Gedanke wollte ihm in dieser Situation nicht mehr kommen.
So erinnerte er sich an das alte Sprichwort, dass der Morgen oft klüger als der Abend war, und bat die anderen Ritter, ihn in dieser Nacht aus der Verantwortung der Nachtwache zu entbinden, und ihn gleich bei Morgengrauen zu wecken. Er würde über die Entscheidung noch einmal schlafen und dann in der Frühe die Steine ablegen, um noch die Frist einzuhalten.
Langsam und stetig zog das Madamal über das Firmament. Ob es das fahle Licht des Mondes oder das Grübeln war – kaum ein Ritter fand in dieser Nacht guten Schlaf. Nur der Vogt schien, von dem Treiben ungerührt, selig in Borons Armen zu ruhen – wenngleich Edelbrecht während seiner Nachtwache das Gefühl hatte Gerling blinzeln zu sehen, als er, mit dem Gesicht zum Kreis der Entscheidung gewandt, auf der Seite lag.
Was für ein merkwürdiger Traum ... der Ritter vom Kargen Land stand, aus dem Schlaf gerissen, von seinem Lager auf und setzte sich neben den wachenden Edelbrecht von Borking. Ihm kamen die Worte des Vogts in den Sinn: ‚Die Steine, die morgen früh beim Aufgang der Sonne auf den Zahlen liegen, werden als Euer Willen gewertet.’
Das hieß, wenn man dies wörtlich nahm, dass jeder sich noch vor Morgengrauen entscheiden musste, wenn seine Stimme nicht verfallen sollte. Das Madamal näherte sich bereits dem Horizont. Bis zum Aufgehen der Sonne waren wohl höchstens zwei Stundengläser Zeit die Steine zu setzen – auch Zeit die bereits gesetzten Steine nochmals umzusetzen, wenn jemand das wollte.
Fünf Steine waren noch zu setzen... Rainfried hielt noch einen Stein – wobei Boromil schon eine böse Ahnung hatte, wo dieser ihn hinlegen würde; Boromil selbst hatte einen des Borkingers und einen eigenen. Nachdenklich drehte Boromil den verbliebenen Stein mit dem Einhornkopf und den Stein mit dem Borkenbär in der Hand.
Schließlich gab es noch den Ritter Grimm Goldmund von Koschtal, der kaum einen der Siedlungsplätze selbst sah und scheinbar zunächst die Entscheidungen der anderen abwarten wollte. Doch zu Boromils und Edelbrechts Überraschung ging nun auch dieser entschlossen auf den Kreis zu.
Grimm Goldmund nahm seine Wappensteine in die Hand und sprach: „Da ich nun redlich nicht entscheiden kann, welcher Grund mein zukünftiger sei, und da ich mich in all meinem Streben stets den Göttern anvertraut habe, die mich immerhin heil und gesund aus dem Sumpf geführt haben – so sei auch meine Entscheidung letztlich eine Wahl der Götter.“
Er schloss die Augen, und ließ die Steine blind fallen.
Als er die Augen wieder öffnete, lagen die beiden Steine Goldmunds wohlgepaart auf dem zweiten Siedlungsplatz. Zwei weitere Wappensteine waren durch den Fall jedoch aus ihrer Position gestoßen worden und lagen nun deutlich neben dem Feld: Robans Wappenstein vom dritten Siedlungsplatz und Boromils vom fünften. Ein Wink der Götter? Oder Grund für Streit?
Neugierig ging Boromil zu den Steinen hinüber und sah, was passiert war. Seinen eigenen Stein legte er sofort wieder zurück auf Position V. Mochte Grimm auch seine Entscheidung getrost den Göttern überlassen - dass er, Boromil, davon ebenfalls beeinflusst wurde, davon war nicht die Rede gewesen. Und wenn Boron ihm einen seltsamen Traum und keinen Schlaf schenkte, dann konnte man das ebenso als Zeichen werten - vor allem, auf die Übersicht achtzugeben und nicht mehr zu schlafen, bis die beiden Steine gelegt wären.
Dann sah er den Stein Robans... er lief Gefahr, sich einen Faustschlag fürs ungebetene Wecken zu fangen, aber der Grobhand von Koschtal hatte, als es bei Standort III darauf ankam, auch nicht gezögert, die anderen zu warnen, und musste nun auch eine Unterbrechung ertragen.
Boromil knuffte Roban an der Schulter, bis dieser blinzelte.
"He, Roban", flüsterte Boromil leise, "Deine Steine liegen doch bei Standort I und III, richtig?"
"Ja, aber warum willst Du das wissen?"
"Nichts, schon gut. Schlaf weiter!"
Schnell beeilte sich der Ritter vom Kargen Land, Robans Stein wieder an seinen ursprünglichen Platz zu legen.
Blieben Edelbrechts und sein Stein. Er ging zum Feuer zurück.
"Das wird wohl nichts mehr mit Schlafen, was, Boromil?"
"Tja, der Tatsache, dass es einem Vorfahren von mir so ging, habe ich meinen Namen zu verdanken!"
Was redete er da? Schluss mit dem Zögern! Boromil ging zum Ablageplatz und legte Edelbrechts Stein bei II ab und seinen eigenen bei I. Er hatte lange überlegt. Die Steine aufzuteilen, konnte als Willensschwäche gedeutet werden. Andererseits hatte dies der Vogt empfohlen. Auch wäre so der Wunsch Edelbrechts möglich, nebeneinander zu siedeln. Dann ging er zum Feuer.
"Die Entscheidung ist gefallen. Ich hoffe, Du bist zufrieden."
Leicht war es Boromil, das war nun im Schein des Feuer deutlich zu erkennen, nicht gefallen. Eigentlich müsste er jetzt schlafen, aber er kam sich besser vor bei dem Gedanken, neben Edelbrecht den Rest der Nacht zu verbringen und aufzupassen, dass keiner mehr ihre Steine unbeabsichtigt entfernte oder verlegte.
Rainfried hatte bisher kein Auge zugemacht, und am Horizont sah man schon langsam die ersten Anzeichen dafür, dass die Praiosscheibe nicht mehr lange auf sich warten ließ. In Gedanken ging er alle Siedlungsplätze durch, immer und immer wieder.
Er war überrascht gewesen, dass Reto seinen zweiten Stein ebenfalls auf die IV gelegt hatte. Ob der Vogt dies dann auch als doppelte Stimme wertete? Dann wäre die Wahl des letzten Steines des Tarnelfurters eindeutig. Wenn allerdings nicht, dann wäre es eine verlorene Stimme, wenn er diesen Stein ebenfalls auf die fünfte Markierung legen würde.
Schon erklangen einsame Rufe einzelner Vögel, und der Vogt schlief immer noch. Langsam stand der Grimsauer auf, und ging unter den wachsamen Augen Rumpels, der die letzte Wache übernommen hatte zu Morwald Gerling. Er betrachtete seinen künftigen Lehnsherrn und flüsterte:
"Seid ihr conforma, dass zwei Steine auf einer Posiciona eine doppelte Wertung haben?"
Der Vogt drehte sich zunächst jedoch nur im Schlaf auf die andere Seite und murmelte ein kaum verständliches „hmjadurchaus“ vor sich hin.
"Dann werde ich es wohl darauf ankommen lassen müssen."
Mit dem Erheben des Randes der Praiosscheibe über den Horizont legte Rainfried den zweiten Stein Retos auf die V.
"Auf gute Nachbarschaft, Reto. Wollen wir doch einmal sehen, ob sich aus dem Sumpf nicht etwas Fruchtbares herausholen lässt."
Noch lange blieb er vor dem Zahlenkreis stehen.
Mit den ersten Vogelgesängen stieß Roban unwillig seine Decke zur Seite. Er lag ohnehin seit mindestens einer halben Stunde wach, da konnte er auch aufstehen und mal nachsehen, wessen Steine wo lagen. Er blinzelte einige Male, als er die Konstellation sah – offenbar würde er demnächst ein Hügelbewohner werden. Dann könnte Boromil Standort I haben und würde nicht mehr mit Reto um Standort V konkurrieren müssen. Und da Edelbrecht von Borking als einziger den letzten Standort wollte...
„Grandios“, knurrte er leise bei der Erkenntnis, dass Grimm Goldmund von Koschtal offenbar sein Nachbar werden würde. Da würde die Palisade nach Westen wohl noch ein Stück höher werden, um nicht nur unerwünschtes Viehzeug, sondern auch unleidliche Nachbarn fern zu halten. Aber die Wege des Herrn Phex waren halt verschlungen – oder er hatte eine sonderbare Art von Humor!
Offenbar hatte Rainfried den Vogt wohl doch Borons Armen entlockt, denn langsam kam der kleine Hügel am Rand des Lagers in Bewegung, rollte hin und her und kam schließlich ächzend auf die Beine. Morwald Gerling blinzelte gen Osten ... noch war das Morgengrauen nur zu erahnen, doch das zaghaft mehrstimmig werdende Vogelkonzert kündete davon, dass die ersten Sonnenstrahlen nicht mehr lange auf sich warten lassen würden.
Wie der Vogt erwartet hatte, waren einige der Ritter bereits wach und saßen am schicksalshaften Kreis versammelt. Ein erster flüchtiger Blick offenbarte, dass schon viele Steine lagen – ein zweiter, dass es sogar alle waren.
„Guten Morgen, hohe Herren!“, nickte der Vogt als er sich dem Kreis und den Wachenden näherte.
‚Alles aufrechte Streiter‘, dachte sich Gerling lächelnd, als er die Steine näher betrachtete. Lediglich ein einziger Stein lag verdeckt, mit der wappenlosen Seite nach Oben weisend, auf der Zwei. Was für ein unsinniger Zug des Goldmunders, als würde man anhand der anderen elf Steine nicht erkennen, wer sich dahinter verbarg. Dann kombinierte er jedoch, dass es wohl das Ergebnis eines Zufallswurfs gewesen sein mochte, weil Ritter Grimm eine Entscheidung ohne Sichtung aller Plätze nicht treffen wollte. Umso erstaunlicher, dass beide Steine auf ein und demselben Feld lagen.
Alles in allem eine recht weit verteilte Wahl der Ritter – bei manchen Stellen würde es nicht schwer werden eine Entscheidung zu fällen – bei anderen schon eher.
Noch war noch ein geschätztes halbes Stundenglas Zeit, in der die Neusiedler ihre Steine versetzen könnten. Das dunkle Blau des Nachthimmels erhellte sich allmählich – erst wenn der Rand der Sonnenscheibe erscheinen würde, wäre diese Wahl beendet und der Vogt würde die Entscheidung verkünden.
Gerling entschied sich die Zeit zu nützen um sich etwas zu kultivieren – bei dieser folgenschweren Zeremonie wollte er nicht aussehen, wie ein frisch geschlüpfter Moosbold.