Die Zweite Neufarnhainer Tafel - ...so kommt sie nur so:

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1033, Neufarnhain

Außerhalb des Steinkreises verstrichen weitere angstvolle Momente der Ungewissheit. Keiner, der das Gebilde betreten hatte, war bisher wiedergekehrt oder gab noch einen Laut von sich. Was machte es da für einen Sinn weitere Männer hinter ihnen herzuschicken?
Andererseits konnte man sie auch nicht ihrem Schicksal überlassen, da hatte Roban schon Recht gehabt.
”Gut, dass wenigstens einer daran gedacht hat, ein Seil mitzunehmen!” dröhnte Rambox in die sich ausbreitende betretene Stille hinein und schlaufte das dicke Hanfseil über seiner Schulter ab.
”Das binden wir jetzt nur einem um die Hüfte und der hält sich dann an den drei Übereifrigen da drin fest. Dann ziehen wir von draußen an, bis alle wieder aus dem Kreis sind. Das haben wir bei engen Stollen auch immer so gemacht.”
Er blickte in die Menge derer, die noch vor dem Kreis stehen geblieben waren.
”Wer ist unser Fanghaken?”
Betretenes Schweigen war für einige Zeit die einzige Antwort.
”Binde mir das Seil um, Rambox.”
Rainfried stellte sich vor den Zwerg. Das Wackeln in der Stimme verriet die Angst, die den Grimsauer gefasst hatte.
”Nur mach schnell, sonst überlege ich es mir noch!”
Rambox begann bereits, das Seil zu verknoten.
”Bevor ich es vergesse, teuerste Adepta Salderken: Ich bin nicht Edelbrecht. Sollte ich da drin irgendwie zu Schaden kommen und kurz davor stehen, von Golgaris Schwingen weggetragen zu werden, wendet eure Magie auf mich an, auf jede Art, die ihr für richtig haltet.”
Ein missglücktes Grinsen stahl sich über Rainfrieds Mundwinkel, als er ihr noch einen Handkuss gab.
”Denn ich gedenke, heute noch mit euch zu tanzen.”
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um, und schritt in den Kreis.
Er fühlte nichts Besonderes, keine Schmerzen, vor ihm hatte sich die Landschaft nicht verändert. Roban, Edelbrecht und Olgosch waren immer noch vor ihm. Er drehte sich um, um den Zurückgebliebenen anzudeuten, dass alles in Ordnung wäre, als ihn ein leichtes Schwindelgefühl erfasste.
Rainfried schloss kurz die Augen, schüttelte den Kopf, öffnete die Augen wieder und sah direkt in das Gesicht der elfjährigen Madalein.
”Und was wolltest du mir sagen?”
Sie lächelte ihn an. Irgendetwas Schweres war auf einmal in seiner Tasche. Instinktiv griff er in diese und umfasste das kleine Holzpferd, das er für ihren zwölften Tsatag geschnitzt hatte.
”Du weißt, was du jetzt sagen musst!”
Eine gehauchte Frauenstimme neben seinem Ohr ließ ihn zusammenzucken.
”Ich bin voller Erwartung, ob du dieses Mal die richtigen Worte findest.”
Tränen begannen aus Rainfrieds Augen zu fließen, kannte er die Stimme doch zu gut. Auch wenn Jahre vergangen waren, als er sie das letzte Mal hörte.
”Mutter?”
Er wandte sich ihr zu. Sie lächelte ihn an, in all ihrer Schönheit, noch immer das Glockenseil um den Hals, mit dem sie sich erhängt hatte.
”Gib es ihr schon. Sie wartet doch nur darauf.”
Ohne eigenes Zutun strecke sich Rainfrieds Hand nach vorne, und öffnete sich. Madalein erkannte das geschnitzte Pferd, und mit einem glücklichen Lächeln nahm sie es aus seiner Hand. Rainfrieds Brust war wie abgeschnürt.
”Nichts Wichtiges.”
Die Worte kamen aus seinem Mund, und sie klangen falsch. So falsch, wie sie es beim ersten Mal waren. Das kleine Pferdchen in Madaleins Hand fing aus dem Nichts Feuer. Mit einem lauten Schrei versuchte er, Madalein das Holzstück aus der Hand zu schlagen, doch konnte er sich nicht bewegen. Verzweiflung machte sich in ihm breit.
”Und wieder versagst du, mein Sohn.”
Rainfrieds Mutter lachte, während sich Madalein vor seinen Augen in ein Flammenmeer verwandelte. Die Tränen und Hitze machten es ihm nahezu unmöglich, die Augen offen zu halten.
Von Tränenkrämpfen geschüttelt, wischte sich Rainfried den Ärmel über das Gesicht. Das Wasser aus seinen Augen konnte er so beseitigen, doch die Hitze wurde nur umso größer.
Neben ihm brach ein brennender Holzbalken zu Boden, und Rainfried erkannte den Raum, in dem er sich wieder fand, als die Gaststätte, in der er in Angbar übernachtet hatte. An jenem Tag, als das von Dämonen geleitete Feuer über die Stadt hereinbrach. Um sich herum lauter Leichen, all jene, die er doch gerettet hatte.
Dort lag die Wirtin, zwei Armbrustbolzen in ihrer Brust. Daneben der kleine Junge, der ihm tags zuvor die Stadt gezeigt hatte, von einem Axthieb in zwei Häften geteilt. Der Schmied über seiner Frau liegend, den Schädel mit dem eigenen Hammer zertrümmert. Der Krämer, mit dem er noch vor kurzem Boltan gespielt hatte, die linke Hälfte bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.
Und vor ihm, in Vollplatte gerüstet und einen Streitkolben in der Hand, einer dieser Schergen, die das Verderben bis in die hintersten Winkel Angbars gebracht hatten. Durch den Helm seines Gegenübers, konnte Rainfried nur undeutlich erkennen, dass es wohl eine Frau sein musste, die sich auf ihn stürzte. Mitten in sein Schwert, das durch die Platte wie durch Butter schnitt und erst barst, als sich die Spitze aus dem Rücken bohrte.
Der Streitkolben fiel aus lebloser Hand zu Boden. In dem Moment war kein Gerüsteter mehr vor ihm. Sein Schwert hatte sich direkt in Madaleins wunderschöne Brust gebohrt, die er so oft schon umfasst und liebkost hatte. Mit einem Blutschwall konnte sie noch hervorhusten: ”Jetzt hast du wirklich mein Herz gebrochen.”
Rainfried hielt sie in seinen Armen, sank auf die Knie und konnte nur leise ”Nihil timeatis. Nihil timeatis. Nihil timeatis.” flüstern. Erneut erzitterte sein Körper unter Krämpfen.
”Oh doch, du wirst dich fürchten. Glaube mir, mein Sohn, deine Furcht wird unendlich sein!”
Und wieder lachte seine Mutter neben ihm, strahlend schön, wie ein Vogel aus Flammen. Und ihr Lachen ließ Funken fliegen, die Madalein und Rainfried erfassten und wie trockenes Holz zu brennen brachten.
Dann war die Hitze nicht mehr existent, nur noch Madaleins Körper in seinen Armen. Und um ihn herum standen die Siedler aus Grimsaus Ehr, seine Schutzbefohlenen.
Alle starrten ihn an. Aus leeren Augen und mit Geifer, der ihnen aus dem Mund lief. Verwesungsgeruch drang in Rainfrieds Nase, als die Wiedergänger den Kreis immer enger schlossen.
”Du hast sie allein gelassen, Hijo.”
Die Stimme seiner Mutter. Wie er sich danach gesehnt hatte, ihre Stimme wieder zuhören.
”Obwohl du gewusst hast, dass die Toten wieder wandeln, hast du sie sich selbst überlassen.”
Rainfried konnte sie nicht sehen, doch wusste er, dass sie ganz nahe war. Ihr Geruch, das Parfum, das sie zu besonderen Anlässen auflegte, überdeckte alles andere, auch das gammelnde Fleisch Madaleins unter ihm.
”Sieh dir deinen Preis für dein Versagen an. Er liegt direkt in deinen Armen.”
Rainfried blickte auf den Körper, den er festhielt. Madaleins Augen waren geöffnet, Blut lief aus ihnen. Sie lächelte ihn an. Einige Zähne waren bereits aus dem verfaulenden Zahnfleisch gefallen und doch schien es Rainfried der schönste Anblick, den er je wahrgenommen hatte.
”Willst du deine Braut nicht küssen?” stöhnte Madalein aus einer zerstörten Kehle hervor. ”Für immer?”
Das Lachen seiner Mutter schallte über die Siedlung, über den nahen Totenacker und gewiss bis in die tiefsten Niederhöllen, als sich Rainfried zu Madaleins Gesicht herabbeugte und die faulenden Lippen der einst so schönen Frau sich mit den seinen zu einem innigen Kuss verbanden...

Immer noch wandelte Edelbrecht, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, kopflos im Kreis. Er sah nichts, fühlte nichts, dachte nichts, vermeinte nur gelegentlich das dreckige Lachen seines missratenen Bruders und seiner fetten Gemahlin zu hören. Aber wie konnte er hören, da er doch den Kopf verloren hatte? Und war nicht bereits diese Erkenntnis ein Zeichen dafür, dass er denken konnte, obgleich…?
In exakt diesem Moment stießen seine Füße gegen etwas Weiches, er verlor sein Gleichgewicht und schlug hart zu Boden…